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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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Wangen heruntertriefen, die zu diesem Zeitpunkt natürlich längst nicht mehr so hübsch sein werden. Übrigens, der Stock da gehört mir. Dürfte ich ihn bitte haben?«
    Er zog eine Packung Lucky Strikes hervor, nahm sich eine Zigarette und zündete sie mit einem schwarzen Bic an.
    »Kann ich auch eine bekommen?«, sagte sie.
    »Klar. Ich gebe Ihnen eine Zigarette, wenn Sie mir meinen Stock geben.«
    »Wenn er so wichtig für Sie ist, ist das aber mehr wert als nur eine Zigarette.«
    Er sagte nichts darauf.
    »Ich möchte Antworten haben«, sagte sie. »Ich möchte so einiges wissen.«
    Er zündete eine Zigarette an und reichte sie ihr. Sie nahm sie und inhalierte. Dann blinzelte sie. »Ich kann sie beinahe schmecken«, sagte sie. »Ja, vielleicht wirklich.« Sie lächelte. »Mmh, Nikotin.«
    »Ja«, sagte er. »Warum sind Sie überhaupt zu den Frauen in dem Farmhaus gegangen?«
    »Shadow hat mich darum gebeten«, sagte sie. »Er meinte, ich sollte sie um Wasser bitten.«
    »Ich frage mich, ob er da wusste, was es bewirken würde. Wahrscheinlich nicht. Immerhin, es hat etwas Gutes, dass er tot am Baum hängt. Jetzt weiß ich jederzeit, wo er ist. Nämlich von der Bildfläche verschwunden.«
    »Sie haben meinen Mann betrogen«, sagte sie. »Die ganze Zeit habt ihr ihn hinters Licht geführt. Er hat nämlich ein gutes Herz, wissen Sie das?«
    »Ja«, sagte Mr. World. »Ich weiß. Wenn das hier vorbei ist, werde ich mir wahrscheinlich einen Mistelzweig anspitzen, zur Esche gehen und ihm den Zweig durchs Auge rammen. Aber jetzt darf ich um meinen Stock bitten.«
    »Wozu brauchen Sie ihn denn?«
    »Er ist ein Andenken an diesen ganzen traurigen Kladderadatsch«, sagte Mr. World. »Keine Angst, es ist kein Mistelzweig.« Er grinste kurz. »Er symbolisiert einen Speer, und in dieser trostlosen Welt kommt es auf Symbole an.«
    Der Lärm von draußen verstärkte sich.
    »Auf welcher Seite stehen Sie?«, fragte sie ihn.
    »Es geht hier nicht um Seiten«, erwiderte er. »Aber wo Sie schon fragen: Ich bin auf der Gewinnerseite. Immer.«
    Sie nickte, ließ den Stock aber nicht los.
    Sie wandte sich von ihm ab und blickte durch den Höhleneingang nach draußen. Weit unter ihr bei den Felsen sah sie etwas, was glühte und pulsierte. Es wickelte sich um einen dünnen, bärtigen Mann mit malvenfarbenem Gesicht, der mit einem Schrubberstab auf es einschlug, einem Gummischrubber von der Art, mit dem Leute seinesgleichen an Ampeln über die Windschutzscheiben wischen. Ein Schrei ertönte, und die beiden waren dem Blickfeld entschwunden.
    »Okay, ich gebe Ihnen den Stock«, sagte sie.
    Mr. Worlds Stimme näherte sich von hinten. »Braves Mädchen«, sagte er aufmunternd, auf eine Weise, die ihr sowohl gönnerhaft als auch undefinierbar männlich erschien. Sie bekam eine Gänsehaut.
    Sie wartete in dem Felseingang, bis sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren konnte. Sie musste abwarten, bis er nahe genug war. Soweit hatte sie sich die Sache zumindest zurechtgelegt.
     
    Der Flug war mehr als erhebend, er war elektrisierend.
    Sie fegten wie ein gezackter Blitzstrahl durch den Sturm und zuckten von Wolke zu Wolke; sie bewegten sich wie das Donnergrollen, wie das Schwellen und Reißen des Wirbelsturms. Es war eine knisternde, unmöglich zu glaubende Reise. Es war keine Angst dabei: nur die Kraft des Sturms, unaufhaltsam und alles verschlingend, und die Freude des Fliegens.
    Shadow grub die Finger in die Federn des Donnervogels und fühlte das statische Prickeln auf der Haut. Blaue Funken wanden sich ihm wie winzige Schlangen über die Hände. Regen überspülte sein Gesicht.
    »Das ist das Größte«, rief er über das Tosen des Sturms hinweg.
    Als hätte er ihn verstanden, stieg der Vogel noch höher auf, tauchte und stürzte sich, jeder Flügelschlag ein Donnern, durch die dunklen Wolken.
    »In meinem Traum habe ich dich gejagt«, sagte Shadow, und die Worte wurden vom Wind zerzaust. »In meinem Traum, da musste ich eine Feder zurückbringen.«
    Ja. Das Wort war in seinem Kopf wie das elektrostatische Knistern im Radio. Sie kamen wegen der Federn zu uns, um den anderen zu beweisen, dass sie Männer waren; und sie kamen zu uns, um die Steine aus unseren Köpfen zu schneiden, um ihre Toten mit unserem Leben zu beschenken.
    Auf einmal breitete sich ein Bild in Shadows Innern aus: von einem Donnervogel – ein Weibchen, vermutete er, weil das Gefieder braun, nicht schwarz war –, das, soeben zu Tode gekommen, auf dem Berghang lag. Daneben eine

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