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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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während er die Ware ablieferte. Er fuhr, nie die fünfzig überschreitend, im strömenden Regen mit eingeschalteten Scheinwerfern den Hang des Lookout Mountain hinauf.
    Sie hielten am hinteren Ende des Parkplatzes. Er stellte den Motor ab.
    »He, Mack. Bevor du aussteigst, ist da vielleicht noch eine kleine Umarmung für mich drin?«, sagte Laura lächelnd.
    »Aber sicher doch«, sagte Mr. Town. Er legte die Arme um sie, und sie schmiegte sich an ihn, während der Regen aufs Autodach trommelte. Er konnte ihr Haar riechen. Ein leicht unangenehmer Geruch drang durch den Duft des Parfüms, aber so etwas blieb beim Reisen ja einfach nicht aus. So ein Bad, befand er, hatten sie beide wirklich nötig. Er fragte sich, ob man wohl irgendwo in Chattanooga diesen Lavendel-Badezusatz bekommen konnte, den seine erste Frau immer so gemocht hatte. Laura lehnte ihren Kopf an seinen und strich ihm mit der Hand zerstreut über die Nackenlinie.
    »Mack … ich denk die ganze Zeit: Du möchtest doch bestimmt gern wissen, was mit deinen Freunden passiert ist«, sagte sie. »Mit Woody und Stone. Oder nicht?«
    »Yeah«, sagte er und bewegte die Lippen zum ersten Kuss auf sie zu. »Natürlich möchte ich das.«
    Also zeigte sie es ihm.
     
    Shadow schritt über die Wiese und beschrieb dabei seine eigenen langsamen, allmählich weiter werdenden Kreise um den Baum herum. Manchmal blieb er stehen und hob etwas auf: eine Blume, ein Blatt, einen Kieselstein, einen Zweig oder einen Grashalm. Er untersuchte jeden Gegenstand mit großer Sorgfalt, als würde er sich ganz und gar in die Zweigigkeit des Zweiges versenken, die Blättrigkeit des Blattes.
    Easter fand sich an den Blick eines Säuglings erinnert, der gerade lernte, die Dinge ins Auge zu fassen.
    Sie wagte nicht, ihn anzusprechen. Das wäre, jetzt in diesem Moment, nachgerade ein Sakrileg gewesen. Erschöpft, wie sie war, beobachtete sie ihn nur und staunte.
    Etwa zehn Schritte vom Baumstamm entfernt fand er einen Segeltuchbeutel, der von langem Wiesengras und abgestorbenen Kriechpflanzen halb überwuchert war. Shadow nahm ihn hoch, knotete ihn auf und lockerte das Durchziehband.
    Die Kleider, die er aus dem Beutel zog, waren seine eigenen. Sie waren alt, aber noch zu benutzen. Er drehte die Schuhe in den Händen. Er strich über den Stoff des Hemdes, die Wolle des Pullovers, starrte alles an, als lägen eine Million Jahre zwischen diesen Dingen und ihm.
    Stück für Stück zog er die Sachen an.
    Er steckte die Hände in die Taschen, schien verwirrt zu sein und zog die eine wieder heraus. Zwischen den Fingern hielt er etwas, das für Easter wie eine weißgraue Murmel aussah.
    »Keine Münzen«, sagte er. Es war das Erste, was er seit Stunden gesagt hatte.
    »Keine Münzen?«, wiederholte Easter.
    Er schüttelte den Kopf. »Damit konnte ich die Hände immer gut beschäftigen.« Er bückte sich, um in die Schuhe zu schlüpfen.
    Nachdem er angekleidet war, wirkte er normaler. Allerdings sehr ernst. Sie fragte sich, wie weit er wohl gereist war und was es ihn gekostet hatte, zurückzukehren. Er war nicht der Erste, dessen Rückkehr sie eingeleitet hatte, und sie wusste, dass dieser Eine-Million-Jahre-Blick recht bald verschwinden würde, dass die Erinnerungen und Träume, die er von dem Baum mitgebracht hatte, von der Welt der Dinge, die man berühren konnte, ausgelöscht werden würden. So geschah es immer.
    Sie führte ihn zur Rückseite der Wiese. Ihr Transporttier wartete zwischen den Bäumen.
    »Es kann uns nicht beide tragen«, sagte sie. »Ich werde auf eigene Faust nach Hause gelangen.«
    Shadow nickte. Er schien in seiner Erinnerung zu suchen. Dann machte er den Mund auf und stieß einen freudigen Begrüßungsschrei aus.
    Der Donnervogel öffnete seinen fürchterlichen Schnabel und erwiderte den Schrei.
    Er ähnelte, jedenfalls oberflächlich, einem Kondor. Die Federn waren schwarz mit einem violetten Schimmer, und um den Hals hatte er eine weiße Krause. Der Schnabel war schwarz und grausam: der Schnabel eines Raubvogels. Mit angelegten Flügeln hatte er in Ruhestellung auf dem Boden die Größe eines Schwarzbären, und der Kopf befand sich auf gleicher Höhe mit Shadows Kopf.
    »Ich habe ihn mitgebracht«, sagte Horus stolz. »Die leben in den Bergen.«
    Shadow nickte. »Ich habe mal von Donnervögeln geträumt«, sagte er. »Der heftigste Traum, den ich je hatte.«
    Der Donnervogel öffnete den Schnabel und gab einen überraschend sanften Laut von sich: Kraruh? »Du hast meinen

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