American Gods
Götter«, sagte Shadow. Als Eröffnung konnte sich das nicht unbedingt mit Mitbürger, Freunde, Römer messen, aber für seine Verhältnisse mochte es reichen. »Vermutlich habt ihr das inzwischen alle, jeder auf seine Weise, erfahren. Die alten Götter werden ignoriert. Die neuen Götter werden zuerst freudig angenommen, dann aber ebenso schnell wieder verabschiedet und zugunsten der nächsten großen Sache beiseite geworfen. Entweder geratet ihr in Vergessenheit oder ihr müsst ständig Angst haben, als veraltet zu gelten; vielleicht seid ihr es auch leid, von den Launen der Leute abhängig zu sein.«
Das Murren wurde weniger. Er hatte jetzt offenbar etwas gesagt, dem sie zustimmten. Jetzt, wo sie ihm zuhörten, musste er ihnen die ganze Geschichte erzählen.
»Es war einmal ein Gott, der kam aus einem fernen Land hierher, und seine Macht und sein Einfluss schwanden, je mehr der Glaube an ihn schwand. Er war ein Gott, der seine Kraft aus Opfern gewann, aus dem Tod, und vor allem aus dem Krieg. Der Tod derer, die im Krieg fielen, war ihm gewidmet – es waren ganze Schlachtfelder, die ihm in der alten Heimat Nahrung und Macht gesichert hatten.
Jetzt war er alt geworden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Betrüger, wobei er mit einem anderen Gott aus seinem Pantheon zusammenarbeitete, einem Gott des Chaos und der Täuschung. Gemeinsam nahmen sie die Leichtgläubigen aus. Gemeinsam knöpften sie den Leuten alles ab, was sie hatten.
Irgendwann – vielleicht vor fünfzig, vielleicht vor hundert Jahren – setzten sie einen Plan ins Werk, den Plan, eine Kraftreserve anzulegen, die sie beide jederzeit anzapfen konnten. Etwas, das sie stärker denn je machen sollte. Denn was könnte mächtiger und kräftespendender sein als ein von toten Göttern übersätes Schlachtfeld? Das Spiel, das sie spielten, hieß ›Wir fangen einen Krieg an‹.
Versteht ihr?
Die Schlacht, die zu schlagen ihr gekommen seid, ist keine, die ihr gewinnen oder verlieren könnt. Sieg und Niederlage sind ihm, sind ihnen, ganz unwichtig. Es kommt nur darauf an, dass möglichst viele von euch sterben. Jeder von euch, der in der Schlacht fällt, gibt ihm Kraft. Von jedem, der stirbt, kann er sich nähren. Begreift ihr?«
Ein dröhnend dumpfer Klang wie von etwas, das Feuer fing, hallte durch die Arena. Shadow blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein gewaltiger Mann – die Haut tiefbraun wie Mahagoni, die Brust nackt, auf dem Kopf ein Zylinder, eine Zigarre keck im Mund – sprach mit einer Stimme, die so tief war wie das Grab. »Okay«, sagte Baron Samedi. »Aber Odin. Er ist gestorben. Bei den Friedensverhandlungen. Die Schweine haben ihn umgebracht. Er ist gestorben. Ich weiß, was Tod ist. Niemand macht mir was vor, wenn’s um den Tod geht.«
»Er musste wahrhaftig sterben«, sagte Shadow. »Natürlich. Er opferte seine körperliche Hülle, um diesen Krieg möglich zu machen. Nach der Schlacht würde er nämlich gesünder und kräftiger sein als je zuvor.«
»Wer bist du?«, rief jemand.
»Ich bin … ich war … ich bin sein Sohn.«
Einer der neuen Götter – die Art, wie er lächelte und glitzerte, ließ Shadow vermuten, dass er eine Droge war – sagte: »Aber Mister World hat gesagt …«
»Es gibt keinen Mister World. Eine solche Person hat nie existiert. Er war genauso ein Typ wie ihr alle, einer, der sich von dem Chaos nähren wollte, das er selbst geschaffen hat.«
Sie glaubten ihm, und er konnte die Kränkung in ihren Augen sehen.
Shadow schüttelte den Kopf. »Wisst ihr«, sagte er. »Ich glaube, ich wäre lieber ein Mensch als ein Gott. Wir Menschen brauchen niemanden, der an uns glaubt. Wir machen einfach immer irgendwie weiter. So sind wir und nicht anders.«
Auf der Stätte herrschte Schweigen.
Auf einmal stürzte mit entsetzlichem Krachen der im Himmel eingefrorene Blitzstrahl auf den Berggipfel, und die Arena versank in völligem Dunkel.
Viele der Wesenheiten vor ihm glühten in der Dunkelheit. Shadow fragte sich, ob sie Streit anfangen, ihn angreifen, ihn zu töten versuchen würden. Er wartete auf irgendeine Reaktion.
Und dann sah Shadow, wie die glühenden Lichter ausgingen. Die Götter verließen den Ort, erst einzeln, dann in Gruppen, schließlich in Scharen.
Eine Spinne von der Größe eines Rottweilers walzte auf sieben Beinen auf ihn zu; aus sämtlichen ihrer Augen drang ein schwaches Funkeln.
Shadow hielt die Stellung, obwohl ihm etwas übel wurde.
Als die Spinne nahe genug
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