American Gods
ihre Gesichter machten einen unfertigen, hastig hingeworfenen Eindruck, während Brüste und Genitalien mit detailwütiger Sorgfalt ausgeführt waren. Und dann war da noch ein flugunfähiger Vogel, den Shadow nicht erkannte: doppelt so groß wie er selbst, mit dem Schnabel eines Raubvogels, aber menschlichen Armen, und so weiter und so fort.
Die Stimme fing wieder an zu sprechen, als wendete sie sich an eine Schulklasse. »Dies sind die Götter, die der Erinnerung entschwunden sind. Selbst ihre Namen sind vergessen. Die Menschen, die sie angebetet haben, sind ebenso untergegangen wie ihre Götter. Ihre Totems sind seit langem gestürzt und zerbrochen. Ihre letzten Priester sind gestorben, ohne ihre Geheimnisse weiterzugeben.
Götter sind sterblich. Und wenn sie wahrhaftig sterben, bleiben sie unbeweint und unbesungen. Ideen sind schwieriger umzubringen als Menschen, aber auch sie können schließlich sterben.«
Da war ein leises Rauschen, das sich jetzt in der Halle auszubreiten begann, ein Flüstern, das Shadow in seinem Traum eine eisige und unerklärliche Furcht einflößte. Eine alles verschlingende Panik ergriff ihn dort in der Halle der Götter, die in Vergessenheit gesunken waren – tintenfischgesichtige Götter und Götter, die nichts weiter waren als mumifizierte Hände oder stürzende Felsen oder Waldbrände …
Shadow erwachte, das Herz pochte ihm wie ein Vorschlaghammer in der Brust, die Stirn war nass, aber er war völlig munter. Die roten Ziffern auf der Nachttischuhr verrieten ihm, dass es 1:03 Uhr war. Das Licht des »Motel-America«-Schilds fiel ins Zimmer. Verwirrt erhob sich Shadow und ging in das winzige Bad. Er pinkelte, ohne das Licht einzuschalten, und kehrte dann ins Zimmer zurück. Der Traum war im Innern noch frisch und lebendig, aber Shadow konnte sich nicht erklären, warum er ihm solche Angst eingejagt hatte.
Das Licht, das von draußen hereindrang, war nicht sehr hell, aber Shadows Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Eine Frau saß auf seiner Bettkante.
Er kannte sie. Er hätte sie unter Tausenden erkannt, selbst unter Hunderttausenden. Sie trug noch immer das marineblaue Kostüm, in dem man sie begraben hatte.
Ihre Stimme kam nur als Flüstern, aber wie ein vertrautes. »Ich nehme an«, sagte Laura, »du wirst mich fragen wollen, was ich hier mache.«
Shadow schwieg.
Er setzte sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl und fragte schließlich: »Bist das du?«
»Ja«, sagte sie. »Mir ist kalt, Hündchen.«
»Du bist tot, Kleines.«
»Ja«, sagte sie. »Ja, das stimmt.« Sie klopfte neben sich aufs Bett. »Komm her und setz dich zu mir«, sagte sie.
»Nein«, sagte Shadow. »Ich glaube, ich bleibe erst mal, wo ich bin. Es gibt da ein paar Punkte, die der Klärung bedürfen.«
»Zum Beispiel die Tatsache, dass ich tot bin?«
»Möglich, aber ich dachte eher an die Art und Weise, wie du gestorben bist. Du und Robbie.«
»Ach«, sagte sie. »Das.«
Shadow roch – vielleicht bildete er sich das auch nur ein – eine Duftmischung aus Fäulnis, Blumen und Konservierungsmitteln. Seine Frau – seine Exfrau … nein, korrigierte er sich, seine verstorbene Frau – saß auf dem Bett und sah ihn unverwandt an.
»Hündchen«, sagte sie. »Könntest du – meinst du, du könntest mir unter Umständen – eine Zigarette besorgen?«
»Ich dachte, du hättest damit aufgehört.«
»Hatte ich auch«, sagte sie. »Aber jetzt mache ich mir wegen der gesundheitlichen Risiken keine Gedanken mehr. Außerdem glaube ich, dass es gut für meine Nerven wäre. Draußen im Empfang ist ein Automat.«
Shadow zog sich Jeans und T-Shirt an und ging barfuß hinaus in den Empfangsraum. Der Nachtportier, ein Mann mittleren Alters, las gerade in einem Buch von John Grisham. Shadow zog eine Packung Virginia Slims aus dem Automaten. Er bat den Nachtportier um Streichhölzer.
»Sie sind in einem Nichtraucherzimmer«, sagte der Portier. »Denken Sie bitte daran, das Fenster zu öffnen.« Er reichte Shadow ein Streichholzbriefchen und einen Plastikaschenbecher mit dem Motel-America-Logo.
»Alles klar«, sagte Shadow. Er ging ins Zimmer zurück. Sie hatte sich inzwischen oben auf seine zerwühlten Decken hingelegt. Shadow machte das Fenster auf und gab ihr dann Zigaretten und Streichhölzer. Ihre Finger waren kalt. Sie entzündete ein Streichholz, und da sah er, dass ihre sonst immer makellosen Fingernägel zerkaut und ramponiert waren, zudem hatte sie Dreck darunter.
Laura zündete sich die
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