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American Gods

American Gods

Titel: American Gods Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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sechsunddreißig Stunden nie gewesen, als wären die letzten drei Jahre nie gewesen, als hätte sein Leben sich in den Tagtraum eines kleinen Kindes aufgelöst, das auf dem Karussell im Golden Gate Park von San Francisco fuhr, auf seiner ersten Reise zurück in die Staaten, einer Marathontour mit Schiff und Auto, seine Mutter steht daneben und beobachtet ihn stolz, während er selbst an seinem schmelzenden Eis lutscht, sich festhält und hofft, dass die Musik nie zu Ende geht, das Karussell niemals langsamer wird, die Fahrt nie aufhört. Er drehte und drehte und drehte sich …
    Dann gingen die Lichter aus, und Shadow erblickte die Götter.
     

6
    Weit offen und unbewacht stehen unsere Pforten
    Und hindurch strömt eine wilde, bunt gemischte Menge.
    Menschen von der Wolga und den tatarischen Steppen.
    Gesichtslose Gestalten vom Gelben Fluss, Malaien, Skythen, Teutonen, Kelten und Slawen.
    Sie fliehen die Armut und die Verachtung der Alten Welt, Führen unbekannte Götter und Riten mit sich,
    Raubtierhafte Leidenschaften wetzen ihre Krallen hier,
    Welch seltsame Sprachen hört man in Straßen und Gassen,
    Bedrohliche Zungenschläge drängen uns ans Ohr,
    Stimmen, die einst der Turm von Babel vernahm.
     – Thomas Bailey Aldrich,
    ›Die unbewachten Pforten‹, 1882
     
    Eben noch war Shadow, sich an seinen adlerköpfigen Tiger klammernd, auf dem größten Karussell der Welt gefahren, da dehnten sich im nächsten Moment die roten und weißen Lichter des Karussells auseinander, zitterten und erloschen, und er fiel durch ein Sternenmeer, während der mechanische Walzer durch einen rhythmisch stampfenden und krachenden Wirbel verdrängt wurde, der wie vom Becken eines Schlagzeugs oder den Brechern an den Küsten eines fernen Ozeans klang.
    Das Licht kam allein von den Sternen, aber es erleuchtete alles mit kalter Klarheit. Das Reittier unter ihm streckte sich und trottete voran, das warme Fell hielt er mit der linken Hand, die Federn mit der rechten.
    »Das ist eine schöne Fahrt, wie?« Die Stimme kam von hinten, in seinem Gehör und in seinem Bewusstsein.
    Shadow drehte sich langsam um, verströmte in der Bewegung Bilder seiner selbst, eingefrorene Momente, jedes »er« in einem Sekundenbruchteil eingefangen, jede kleinste Bewegung von unendlich langer Dauer. Die Bilder, die sein Bewusstsein erreichten, ergaben keinen Sinn: Es war, als würde er die Welt durch die vielfach facettierten. Augen einer Libelle sehen, nur dass jede Facette etwas völlig anderes sah. Er war nicht imstande, die Dinge, die er sah oder zu sehen glaubte, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen.
    Sein Blick ruhte auf Mr. Nancy, dem alten schwarzen Mann mit Menjoubärtchen, in seinem karierten Sportsakko und den zitronengelben Handschuhen hoch oben auf einem auf und nieder schwebenden Karusselllöwen reitend; und zur selben Zeit, an derselben Stelle, sah er eine juwelengeschmückte Spinne, groß wie ein Pferd, die ihn anstarrenden Augen ein smaragdgrüner Nebel; und gleichzeitig schaute er auf einen ungewöhnlich großen Mann mit teakfarbener Haut und drei Paar Armen, der einen fließenden Kopfschmuck aus Straußenfedern trug, das Gesicht mit roten Streifen bemalt hatte und einen gereizten goldenen Löwen ritt, an dessen Mähne er sich mit zweien seiner sechs Hände festhielt; und ebenfalls sah er einen schwarzen Jungen, in Lumpen gekleidet, der linke Fuß stark geschwollen und von Blattläusen übersät; und zuletzt, hinter all diesen Dingen, erblickte Shadow eine winzige braune Spinne, die sich unter einem verwelkten ockergelben Blatt verbarg.
    Shadow sah all diese Dinge, und er wusste, dass sie alle dasselbe waren.
    »Wenn Sie den Mund nicht zumachen«, sagten die vielen Dinge, die Mr. Nancy waren, »wird Ihnen da noch was reinfliegen.«
    Shadow machte den Mund zu und schluckte schwer.
    Da war eine Holzhalle auf einem Hügel, etwa eine Meile von ihnen entfernt. Sie trabten darauf zu, die Hufe und Pfoten ihrer Reittiere stapften lautlos im trockenen Sand am Rande der See.
    Tschernibog kam auf seinem Zentauren herangetrabt. Er klopfte auf den menschlichen Arm des Reittiers. »Nichts von alldem geschieht wirklich«, sagte er zu Shadow. Er klang elend. »Es findet alles nur in Ihrem Kopf statt. Am besten gar nicht dran denken.«
    Shadow sah einen grauhaarigen alten osteuropäischen Einwanderer mit schäbigem Regenmantel und einem eisenfarbenen Zahn, wohl wahr. Aber er sah auch ein untersetztes schwarzes Ding, dunkler noch als die Dunkelheit,

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