Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
bleibt.«
Präsidentschaftskandidat Adlai Stevenson machte sich ebenfalls Sorgen: »Warum fürchten so viele Amerikaner, dass wir kein gemeinschaftliches Ziel mehr haben, hinter das wir uns als Nation stellen können? Warum gibt es so viel Apathie, wenn es um öffentliche Probleme geht, und warum zieht man sich in so großer Zahl in die Annehmlichkeiten des Privatlebens zurück?«
Life veröffentlichte eine Reihe von Artikeln – mit Beiträgen von Stevenson, Walter Lippmann, Billy Graham und James Reston – unter dem alarmierenden Titel The National Purpose. America in crisis; an urgent summons . Die New-Frontier -Rhetorik von John F. Kennedy ist zum Teil auf diese Debatte zurückzuführen. Selbst Präsident Eisenhower meinte, hier ein wachsendes Problem zu erkennen, und benannte eine spezielle Commission on National Goals .
Einige Monate vor seiner Abfahrt war auch Steinbecks Pessimismus öffentlich geworden. In der Zeitschrift Coronet vom März 1960 beschrieb Adlai Stevenson einen Besuch bei Steinbeck in dem alten Cottage in Somerset, wo der Autor damals an seiner Version des Artus-Stoffes arbeitete. Umringt »von allen Geistern – von Druiden, Sachsen, Römern, Normannen, Engländern« –, erzählte der Schriftsteller ausführlich von der Artus-Legende und dem immer wiederkehrenden Bedürfnis nach moralischer Autorität und nach einem Kompass in Zeiten der Verwirrung und des Zweifels. Er sprach über die Bedeutung der Legende für die Gegenwart, über den ewig währenden Kampf zwischen dem einfachen Guten und dem hinterlistigen Bösen und, wenn eine solche Phase der Korruption des menschlichen Geistes vorbei war, über den Hunger nach Reinheit und edlen Zielen.
Nachdem Steinbeck im November 1959 aus Europa zurückgekehrt war und einige amerikanischen Zeitungen gelesen hatte – der TV-Quiz-Skandal war in vollem Gange –, schrieb er Stevenson den besorgten Brief, den ich bereits früher erwähnt habe. Ihm waren nach seiner Heimkehr zwei Dinge aufgefallen. Zunächst sprach er von einem »schleichenden, alles durchdringenden Nervengas der Immoralität, das in den Kindergärten beginnt und weiter kriecht, bis es die höchsten Stellen erreicht hat, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Regierung«. Danach meinte er, eine »nervöse Unruhe« zu bemerken, »einen Hunger, einen Durst, ein Verlangen nach etwas Unbekanntem – vielleicht Moral«. Und dann sei da noch die Gewalt, die Gemeinheit und die Scheinheiligkeit, symptomatisch für ein Land, das zu viel besitze. Er war der Ansicht, auf dieser Grundlage könne das Land nicht überleben. »Was wir in der Natur besiegt haben, können wir nicht in uns selbst erobern.«
Steinbeck sah nicht voraus, dass diese Probleme ebenso im kleinen Maßstab auftreten würden, in der Familie. Auch das amerikanische Familienleben begann sich in jener Zeit stark zu verändern – es gab immer mehr Doppelverdiener, und die Scheidungsrate stieg; die Nachbarschafts- und Familienbande wurden lockerer. Diese Probleme zeigten sich vor allem bei der schwarzen Bevölkerung. Bereits 1960 waren die Zahlen besorgniserregend: Über 20 Prozent der schwarzen Babys waren Kinder alleinstehender Mütter, die zudem oft noch im Teenageralter waren. Zwanzig Jahre später, 1979, war es mehr als die Hälfte. Bis heute hat sich die Situation kaum gebessert.
Solche Zahlen deuteten damals schon auf große soziale Probleme innerhalb der schwarzen Gemeinschaft hin. Der Soziologe und spätere Senator Daniel Patrick Moynihan schrieb im sogenannten Moynihan Report (1965): »Die Familienstruktur in der schwarzen Unterschicht ist äußerst instabil und steht in vielen Innenstädten vor dem Zusammenbruch.« Diese Schlussfolgerung wurde nicht dankend angenommen, schon gar nicht in progressiven Kreisen, aber in vielen Vierteln war dies die nicht zu leugnende Realität.
Dazu muss zunächst gesagt werden, dass die Farbigen die einzige amerikanische Bevölkerungsgruppe sind, die nicht aus freiem Willen emigriert ist, nicht von Afrika nach Amerika und später nicht von den Südstaaten in die Nordstaaten. Im ersten Fall wurden sie als Sklaven verschleppt, im zweiten hat man ihnen das Leben dort, wo sie wohnten, mehr oder weniger unmöglich gemacht. Diese Vorgeschichte schmälert nicht die eigene Verantwortung eines jeden Menschen und einer jeden Bevölkerungsgruppe für die Gestaltung des eigenen Lebens, aber Tatsache bleibt: Das Desaster war also die Nachwirkung des Elends, das durch eine bestimmte Gruppe Weißer
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