Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
fährt, der sieht die Stadt mit ganz anderen Augen. Man muss auf seine Sicherheit achten – einer niederländischen Kollegin wurde hier erst kürzlich an einer Ampel eine Pistole an den Kopf gesetzt und anschließend der Wagen gestohlen –, aber man bekommt all das zu Gesicht, wovon die Serie erzählt: die Drogenhändler an den Straßenecken, die Warterei, die langsam vorbeifahrenden Kunden, die genau begrenzten Territorien. Hinter der nächsten Kreuzung kann plötzlich ein ordentliches Viertel liegen, vor jedem Haus ein weißer Zaun und ein kurzgemähter Rasen. Einen Block weiter muss man dann auf einmal wieder auf der Hut sein.
The Wire handelt von den 15 bis 20 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, die das Land schlicht nicht gebrauchen kann, die das auch wissen und die darauf reagieren und gleichzeitig versuchen zu überleben. Diesen Menschen begegnet man hier überall. Aber es geht um mehr. So wie Steinbeck vom »Nervengas der Immoralität« sprach, so spricht der Autor und Produzent von The Wire , David Simon, vom »Tod der Arbeit« – und damit meint er nicht nur den Verlust von Jobs, sondern auch den Verlust von Würde und Integrität, die zu einer normalen Arbeitsgemeinschaft gehören. Die Folge ist, dass Statistiken frisiert werden; man schmeichelt Vorgesetzten, anstatt ehrlich seine Meinung zu sagen, man konzentriert sich auf Ergebnisse, Vorhersagen und Renditen, man ersetzt Qualität durch Form und Äußerlichkeiten.
Auch die Stadtverwaltung von Detroit hatte damit zunächst zu kämpfen. Sie verschwendete Jahre mit der Illusion, dass neue Bürogebäude, Industriegebiete, Straßen, Tunnel, U-Bahnen und andere Verkehrsmittel, Freizeiteinrichtungen und prestigeträchtige Gebäude das Blatt wenden könnten. Am Ende warf die Stadt das Ruder herum und akzeptierte, so wie andere im Niedergang begriffene Regionen, das Schrumpfen als eine Tatsache.
Jetzt beginnt in der Leere und Stille allmählich eine neue Stadtkultur zu entstehen, mit Hilfe von tausend und einer kleinen und klugen Initiative. Über der Mexican Bakery im Südwesten der Stadt befindet sich Soup, ein schlichter Raum, wo man für 5 Dollar einen Teller Suppe und eine Schüssel Salat bekommt und wo die Gäste allmonatlich darüber abstimmen, in welches Nachbarschaftsprojekt der Gewinn diesmal fließt: in die Anlage eines kleinen Parks, in ein paar Beobachtungskameras oder anderes. Es gibt Bizdom U, eine Anlaufstelle für junge Unternehmer, die in Detroit investieren wollen; kostengünstige Flächen sind im Überfluss vorhanden. Hier und da erscheinen Stadtfarmen auf den urban prairies – manchmal ein großes Wort für ein fußballgroßes Areal mit einigen Gemüsebeeten und ein paar provisorischen Treibhäusern aus Plastikfolie. Aber ein interessanter Ansatz ist es doch. Manche Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt als urban hunters . Ich hörte von einem pensionierten Lastwagenfahrer, der gute Geschäfte mit Waschbärenfleisch macht; er empfiehlt eine Marinade aus Gewürzen und Essig. Kaninchen und Eichhörnchen sollen geschmort besonders gut schmecken.
Eine neue Kunstszene entsteht – zum Beispiel das internationale Kollektiv der Detroit Unreal Estate Agency, eine Gruppe, die sich mit den neuen Lebensformen in dieser »postapokalyptischen Stadt« beschäftigt.
Und dann ist da natürlich das international bekannte Projekt in der Heidelberg Street, eine abgelegene, ländlich wirkende Straße im Detroiter Osten, wo sich die verrotteten Telefonleitungen auf dem Boden winden, die Bäume durch Dächer wachsen und Rudel von verwilderten Hunden die Gegend unsicher machen.
Einige Künstler sind dabei, die ganze Straße zu einem Kunstwerk zu machen, und dieses Projekt lockt heute schon jedes Jahr Zehntausende Besucher an. Häuser sind orangefarben oder knallblau gestrichen, sie sind mit vielen Hundert Puppen und Teddybären umwickelt, ein mit Puppenfleisch vollgestopftes Auto rostet vor sich hin, in einem Garten meditieren Dutzende von Weihnachtsmännern. Es gibt Holzkonstruktionen, Skulpturen in einem Käfig; auf einem weißen Haus stehen kreuz und quer Zahlen – 60, 4, 20, 13A, 375, 1000. Ich entdecke sogar das Logo der niederländischen Friedensbewegung, die von Rob Wout gezeichnete kleine Frau, die einer Atomrakete einen Tritt verpasst – » Kick the bomb habit! «
An der Ecke liegt ein halb verbuddelter Hummer, der spritfressende Luxuspanzer von General Motors aus den neunziger Jahren. Wo früher der Motor war, blüht es nun in einem
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