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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Amerika auch in kultureller Hinsicht, sie wirkte sich aus auf Sprache, Kleidung, Küche, Tanz, sie ließ neue Musikrichtungen entstehen – Jazz, Rhythm-and-Blues, Soul, Hiphop –, sie hatte die Herausbildung einer breiten schwarzen Mittelschicht zur Folge. Die ersten schwarzen Bürgermeister der großen Städte entstammten einer wie der andere der Great Migration : Tom Bradley in Los Angeles (1973), Coleman Young in Detroit (1974), Harold Washington in Chicago (1983), David Dinkins in New York (1990), Willie Brown in San Francisco (1996) – Brown hatte irgendwann einmal als Baumwollpflücker in Osttexas angefangen.
    Jeder Schwarze wusste, wo die Grenzen des Jim-Crow-Territoriums lagen. El Paso im Süden, Washington im Osten, der Ohio, wenn man nach Detroit fuhr. Dort erloschen die beleuchteten Schilder » COLORED « über den Türen in den Waggons, und danach konnte sich jeder setzen, wohin er wollte. Die meisten Immigranten dokumentierten die neue Freiheit umgehend, mit einem stolzen Foto. Isabel Wilkerson beschreibt, wie sie als junges Mädchen derartige Fotos ihrer eigenen Eltern in einer Schublade fand. Sie besuchte damals bereits eine teure weiße Schule, eine Ausbildung, von der ihre Eltern nicht einmal hatten träumen können.
    Ihre Klassenkameraden berichteten von Vorfahren, die praktisch ohne einen Cent in der Tasche aus Irland oder Skandinavien nach Amerika gekommen waren. Sie war befreundet mit Kindern von Immigranten, die erst kurz zuvor aus Argentinien, Nepal und El Salvador eingewandert waren, und ihr wurde immer klarer, dass auch sie selbst ein typisches Migrantenkind war, mit allem, was dazugehörte: übermäßig besorgte Eltern, ein Freundeskreis, der vor allem aus »Mit-Einwanderern« bestand, Gerichten von »zu Hause«, Klatsch von »zu Hause«, ein Vater, der es am liebsten gesehen hätte, wenn sie sich mit einem Jungen von »zu Hause« verlobt hätte. So entstand die Grundthese für ihr Projekt: dass der Auszug der Schwarzen aus dem Süden ebenfalls eine Migrationsbewegung war, mit allen Erfolgen und allen dazugehörenden Problemen.
    »Die Migranten waren so darüber erleichtert, Jim Crow entkommen zu sein, dass sie die vielen Gefahren der großen Städte, in die sie geflohen waren, unterschätzten«, schreibt Wilkerson. »Oder sie trauten sich nicht, daran zu denken – an die Gangs, die Schusswaffen, die Drogen, die Prostitution.« Welche Auswirkungen dieses Elend auf ihre Kinder haben würde, konnten die Eltern gar nicht vorhersehen, vor allem dann nicht, wenn sie sie ohne Aufsicht zurücklassen mussten, weil sie arbeiten gingen. »Viele Migranten erkannten ebenso wenig die Signale der sich anbahnenden Probleme und waren daher auch nicht in der Lage, ihre Kinder dagegen zu wappnen oder energisch einzuschreiten, wenn die Außenwelt in ihr Leben eindrang.« Und hier gab es – anders als im Süden – keine Omas, Tanten, Brüder, Pfarrer, Cousins, Schwestern, Cousinen, Opas, Onkel, Ärzte, Nachbarn, Familienfreunde, hier gab es kein Dorf mit lauter guten Geistern, die sie umgaben, Tag und Nacht.
    »Detroit ist eine soziologische Katastrophengeschichte«, sagte mir Joseph Amato später. Eine Geschichte von drei Katastrophen, ein perfect storm . »Erstens: eine wirtschaftliche Basis, die auf ein einziges Produkt ausgerichtet war. Zweitens: ein Migrantenstrom, der die Aufnahmemöglichkeiten der Stadt, der Familien, der Kirchen und anderer sozialer Einrichtungen überforderte. Drittens: ein Immobilienmarkt, der am Ende einstürzte und so zahllosen Familien nicht nur ihr ›home‹ nahm, sondern auch ihre letzte finanzielle Sicherheit.«
    Amato wuchs während der fünfziger Jahre in Detroit auf, er hat den Niedergang zum Teil selbst miterlebt. »In meiner Jugend war Detroit noch eine Art kleines Chicago, eine hübsche Stadt mit guten Schulen, viel Grün und schönen Parks, trotz der ganzen Fabriken. Doch als mein Vater alt war, konnte er in seinem eigenen Viertel nicht einmal mehr eine Runde um den Block gehen, weil das viel zu gefährlich war.«
    Der Niedergang Detroits begann, seinem Empfinden nach, Ende der fünfziger Jahre. Die Wirtschaftsleistung der Stadt nahm ab, und als die Automobilindustrie automatisiert wurde, wurden immer mehr Menschenhände durch Roboterarme ersetzt. Hinzu kam der Übermut von General Motors, dem Konzern mit einer Reihe von Automarken – Cadillac, Oldsmobile, Pontiac, Chevrolet – und Zulieferbetrieben, der nach dem Krieg zum größten Autohersteller der Welt wurde.

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