Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
sind eingeworfen. In der großen Turnhalle, früher einmal das Zentrum vieler Feste und Feierlichkeiten, hängt die Decke halb herunter, die Spinde stehen offen, Vögel flattern ängstlich weg.
Danach wieder lange einsame Meilen. Eine halbe Stunde später tauchen drei Reiter auf, die in einiger Entfernung neben uns her reiten. Sie biegen ab, als wir erneut in eine Art Badland kommen, eine mondartige Landschaft aus Schlackehaufen, wo nicht einmal eine Ziege überleben kann. Unsere elektronische Führerin Sandy scheint in der Zwischenzeit verhext worden zu sein, sie dirigiert uns von einer unmöglichen Schotterpiste zur nächsten, zeigt Routen an, die es gar nicht gibt, und negiert das Vorhandensein von Straßen, die genau vor unserer Nase liegen. Auf halber Strecke erscheinen ein paar Stoppelfelder, eine Reihe einfacher Häuser, Wäsche an der Leine, ein kleines Gesundheitszentrum, eine Schule der katholischen Mission, ein Rudel wilder Hunde und am Ende des Dorfs ein kaputter Caravan, um den herum mindestens zwanzig Pferde frei herumlaufen. Manche traben ein Stück neben uns her. Das muss Pryor sein.
Schließlich landen wir in Edgar, im warmen weißen Wohnzimmer auf der anderen Seite des Reservats, der Edgar Bar. Hier hängen keine Filmstars oder alten Dorfansichten an der Wand, sondern Fotos von Mähdreschern, Eggen, Mähmaschinen, eine imposanter als die andere. In der Ecke ein paar Spielautomaten, bei der Tür ein Hinweisschild: » Danger. Many illegal activities in progress. Enter at your own risk .« Am mittleren Tisch sitzen zwölf Farmer sowie zwei Frauen. Es gibt hier keinen Mann, der nicht einen Stetson trägt, aber ansonsten unterscheidet sich das Gespräch in nichts von dem am mittleren Tisch einer friesischen Kneipe auf der anderen Seite der Welt: gemütliches Schwatzen, Lachen, Verabredungen fürs Wochenende treffen, denn dann spielt die Dorfkapelle wieder.
Wir fahren, wie Steinbeck, in Richtung Yellowstone Park. Der Pass ist gesperrt, Schneefall droht. Zu dieser Zeit des Jahres ist nur ein kleiner Teil des Parks zugänglich. Steinbeck hatte Glück, er nahm den richtigen Eingang. Er entdeckte im Yellowstone Park, dass Charley ein großer Bärenjäger war, der knurrend und bellend einem Bären so viele Beleidigungen entgegenschleuderte, dass das Tier Rosinante auf den Leib gerückt wäre, hätte Steinbeck nicht eingegriffen. Wir beschließen, dies nicht anzuzweifeln, und fahren zurück.
Und dann entfaltet sich erneut ein Panorama, das vielen Amerikanern in die Seele gebrannt ist. Ein blauer Himmel mit weißen Wolkenschleiern. Eine endlose Ebene. Und dahinter, in weiter Ferne, steht auf einmal die große Mauer, die das Land durchschneidet: die Rocky Mountains, schneebedeckte Gipfel voller Herausforderungen und Versprechungen, und dahinter alles, was der Westen einer Gruppe erschöpfter Siedler in klapperigen Planwagen nur bieten konnte. Es war diese Szenerie, die die Lehrerin Katherine Lee Bates 1893 zu der Hymne » America the Beautiful « inspirierte.
Parallel zur Straße fließt der Yellowstone River, links und rechts sehen wir saftige, grüngelbe Weiden und Baumgruppen und weiter oben die dunklen Konturen von Kiefernwäldern. Alles ist von einem großen Liebreiz, und ich kann mir vorstellen, dass der Anblick Steinbeck half, seine depressive Stimmung zu überwinden. Er denke sich Dinge aus, die er kaufen müsse, nur damit er dort bleiben könne, schrieb er: in Billings einen Hut, in Livingstone eine Jacke, in Butte ein Gewehr. Man weiß nicht, wo er die Nacht verbrachte: in einem Motel in Livingstone, wo er sich, laut der gestrichenen Passage im Manuskript, die dritte TV-Debatte zwischen Nixon und Kennedy ansah, oder auf einem eiskalten Lkw-Parkplatz bei Bozeman, wie er an Elaine schrieb.
Wir bleiben in Livingstone, wo die Main Street noch fast genauso aussieht wie an dem kalten Herbsttag, als Steinbeck seine Jacke kaufte, und wo die Züge noch ebenso wehmütig rufen wie damals. Die Geschäftshäuser sind fast monumental, Stück für Stück gebaut in den reichen Jahren um 1900. Die Geschäfte selbst sind weniger solide: viele Souvenirläden, Spirituosenhandlungen, Secondhandgeschäfte, Pfandhäuser, » Action Pawn, Take II «. Andere Zeitungen als The Bozeman Daily Chronicle kann man hier nicht kaufen. Keine New York Times , kein Wall Street Journal . »Für uns kommen die nicht über die Berge«, sagt der Zeitungsverkäufer. Am Ende der Main Street hat man den Versuch eines Retro-Neubaus
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