Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
unsere Kinder zu guten und ehrlichen Menschen zu erziehen, wenn die Stadt, der Staat, die Regierung und die Wirtschaft allesamt Schikanen und Unehrlichkeit am höchsten belohnen. Auf allen Ebenen wird betrogen, Adlai. Vielleicht kann man ja nichts dagegen tun, aber ich bin dumm, naiv und hoffnungsvoll genug, es zu versuchen.«
Zum Abschied serviert uns Nada Barry in ihrem noch blühenden Garten ein Glas Wein, während die Abendsonne durch die Blätter scheint. Nada ist fast achtzig, hat einen auffallend klaren Blick, ein breites Gesicht, lange graue Haare. Sie überschüttet mich mit Fragen: wie weit ich mit meinem Buch gekommen bin, was ich von ihrem alten Freund John halte, und von Sag Harbor. »Im heutigen Sag Harbor hätte sich John bestimmt nicht niedergelassen«, meint ihre Tochter. »Nein«, sagt Nada, »hergekommen wäre er nicht. Aber geblieben und alt geworden wäre er hier schon.«
Sie weiß nicht mehr viel über das Charley-Projekt, damals hätten die Männer in ihrer eigenen Welt gelebt, außerdem sei sie fünfzehn Jahre jünger als ihr Bob gewesen. »John war nicht ganz unkompliziert, bestimmt nicht. Er war sehr schüchtern, man wusste nie, was er wirklich dachte. Aber er war ein sehr guter Zuhörer.« Sie hatte ihn gerngehabt; man habe mit ihm gut über alltägliche Dinge reden können. »All die anderen Männer waren überzeugte Republikaner, und John war ein echter liberal , da kam es schon mal zu Meinungsverschiedenheiten. Aber meistens sprachen sie über Lokalpolitik, über den Bau der Kanalisation zum Beispiel, darüber konnten sie endlos reden.«
Wenn er noch lebte, würde er jetzt im American Hotel sitzen, meint Nada, aber sicher ist sie sich nicht. »Damals gingen wir selten aus, wir machten es uns zu Hause schön, feierten mit Freunden. Elaine und ich kochten, wir waren die Gastgeberinnen, das war unsere Rolle. Aber wir haben auch viel mit den Männern zusammen unternommen, und das war zu der Zeit in Sag Harbor noch nicht üblich.«
War Steinbeck wirklich der Naturbursche, der er so gern sein wollte? Ich erwähne, was sein Sohn Thomas über die Angelausflüge gesagt hat, auf die John so stolz war: Das Angeln selbst habe seinen Vater kaum interessiert. »Für ihn war eine Angelleine im Wasser die perfekte Tarnung, er konnte dann lesen oder tagträumen.« Nada lacht. »An seinem Boot gab es nicht einmal Halter für die Angelruten. Er redete nur gern vom Angeln.« Aber schwärmte er nicht von den einfachen Beschäftigungen, für die man geschickte Hände brauchte? »John und geschickt? Das ist ein Witz! Wegen jeder Kleinigkeit hat er Bob angerufen, an manchen Tagen dreimal.« Wollte er also immer ein anderer sein, als er in Wirklichkeit war? »Er wollte ein Macho sein wie die anderen, aber er war es nicht. Im Gegenteil, er war sehr sensibel.«
Wir kommen auf Johns Geschichten zu sprechen, auf den Wahrheitsgehalt seines Reiseberichts. Wer sich näher damit befasst, zweifelt nämlich zuweilen an der Realität des Geschilderten. Immer wieder stimmen die Datums- und Ortsangaben im Bericht nicht mit denen in den unterwegs geschriebenen Briefen überein. Und manches an den Begegnungen und Erlebnissen wirkt zu schön, um wahr zu sein, die Dialoge zu gut ausformuliert, zu glatt, zu aussagekräftig. In den Südstaaten spricht er angeblich nacheinander mit drei sehr verschiedenen Anhaltern: einem ängstlichen, unterwürfigen schwarzen Arbeiter, einem weißen Rassisten und einem radikalen schwarzen Studenten – ein eher unwahrscheinlicher Zufall. Außerdem weiß ich von Toby Street, der später ein paar Tage mit Steinbeck gefahren ist, dass Rosinante einen furchtbaren Krach machte; in der Kabine konnte man sich kaum richtig unterhalten.
Ich erzähle, was John junior über Die Reise mit Charley geschrieben hat. »Thom und ich sind davon überzeugt, dass er nie mit irgendeinem von diesen Leuten geredet hat. Er hat nur in seinem Wohnmobil gehockt und all diesen Mist geschrieben.« Nada lacht auf. »Ach ja, John, was das angeht … Als wir das Buch gelesen haben, haben wir auch gedacht: Dieser John, oh, oh, oh. Er hat wirklich so manches aufgebauscht. Er konnte schöne Seifenblasen machen …«
2
Als John und Charley am Morgen des 23. September 1960 zu ihrer Expedition aufbrachen, war es etwa neun Uhr. Elaine und John verabschiedeten sich schnell, Elaine »schoss davon« in ihr geliebtes New York, und John, neben sich Charley, fuhr in Ruhe zur Fähre nach Shelter Island, der ersten von drei Fähren,
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