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Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Titel: Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geert Mak
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Sinn auch viel über die soziale Herkunft aussagt. Einige Zeitgenossen behaupten, Van Doren sei im Grunde eine Art Vorläufer John F. Kennedys gewesen, eine ebenso charismatische Gestalt.
    Charles Van Doren übertraf alle Erwartungen. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte er sich zu einem regelrechten Fernsehstar, einem der ersten. Er deklassierte sämtliche Gegner und schien sich dabei eine jungenhafte Unbekümmertheit und Unschuld zu bewahren. Und er verdiente ein Vermögen. Das Time Magazine bildete ihn auf dem Titelblatt ab, er personifizierte die Hoffnung auf ein neues Amerika der Vernunft nach so vielen finsteren Jahren. Nicht ohne eine gewisse Verwunderung schrieb sein Vater an einen Freund: »Etwa fünfzehn Millionen Menschen haben sich in ihn verliebt – und dieses Wort gebrauche ich nicht leichtfertig.«
    Doch in Wirklichkeit spielte auch Charles Van Doren das abgekartete Spiel mit. Er wusste genau, welche Fragen kommen würden, lernte zu zögern oder sogar zu stammeln, als sei er sich mit einer Antwort nicht ganz sicher. Seinem Gegner Herb Stempel fiel es wesentlich schwerer zu tun, was man von ihm erwartete. »Da sah ich diesen Kerl mit seinem großartigen Namen, Van Doren, mit einer Topausbildung und Eltern, die ihn immer unterstützt haben, während ich nur das Gegenteil kannte, den mühsamen Weg nach oben«, sagte er später. Dennoch spielte er die traurige Rolle des Verlierers. Für den Abend des 5. Dezember 1956 sah das geheime Drehbuch den Gnadenstoß vor. Stempel musste eine Frage falsch beantworten, die für ihn eigentlich kein Problem gewesen wäre: Welcher Film gewann 1955 den Oscar in der Kategorie Best Motion Picture ? Die richtige Antwort lautete: Marty .
    Stempel liebte diesen Film, er hatte ihn dreimal gesehen. Doch er hatte nun einmal seine Schuldigkeit getan. Van Doren war der große Held, er wurde mit Angeboten überschüttet, NBC nahm ihn für drei Jahre unter Vertrag, sogar Professuren wurden ihm angetragen. Stempel, der sein Preisgeld schlecht angelegt hatte und alles verlor, verbitterte zusehends. Es dauerte nicht lange, bis er Journalisten über die Machenschaften hinter den Kulissen informierte. Als dann einem Teilnehmer der Quizshow das Notizbuch eines anderen Teilnehmers mit allen vorgegebenen Antworten für die kommende Sendung in die Hände fiel, war der Skandal perfekt.
    Der Fall schlug hohe Wellen, er wurde sogar von einem Sonderausschuss des Repräsentantenhauses untersucht. Zunächst bestritt Van Doren alle Vorwürfe, die Ausschussmitglieder behandelten den Fernsehhelden mit großem Respekt, aber schließlich musste auch er die Wahrheit sagen. Am 2. November 1959 erklärte er der schockierten amerikanischen Öffentlichkeit: »Ich habe sehr viel über Gut und Böse gelernt. Der Schein trügt oft. Ich war in einen Betrugsfall verstrickt, und zwar so tief wie nur möglich.«
    Diese Geschichte sagt viel über das Amerika der fünfziger Jahre. Einer der Verantwortlichen gestand später, alle hätten die Wirkung von Fernsehbildern vollkommen unterschätzt; man habe mit dem Medium Fernsehen experimentiert, als wäre es eine neue Art Radio. Die tiefe, aufrichtige Empörung über den Betrug lässt aber auch erahnen, wie arglos die Durchschnittsamerikaner jener Zeit waren, wie groß ihr Vertrauen war zu Führungspersönlichkeiten in Medien, Wirtschaft und Politik – und zueinander. Manche sehen in dem Quizshow-Skandal den Anfang vom Ende der amerikanischen Vertrauensgesellschaft.
    Als Charles Van Doren seine Beteiligung an dem Betrug gestand, waren Elaine und John gerade aus Somerset zurückgekehrt. Auch dort gab es ein populäres Quiz; ein kleiner Rundfunksender stellte Hörern anspruchsvolle Fragen, für die richtige Antwort bekam man ein Britisches Pfund. Quizshows wie Twenty-One mit ihren übertrieben hohen Gewinnen fand Steinbeck ohnehin verrückt, dennoch war auch er zutiefst entsetzt über den Fall. Er kannte die Van Dorens als vorbildliche Familie, und die Schummelei mit den Quizfragen war in seinen Augen das Symptom schlechthin für den moralischen Krebs, der sich in Amerikas Seele eingenistet hatte: die Vorstellung, dass der Zweck die Mittel heilige und dass man im Namen von so etwas wie Fortschritt auch an die schlechtesten Instinkte appellieren dürfe. Darüber konnte er sich furchtbar aufregen.
    Drei Tage nach Van Dorens Geständnis schrieb er an seinen Freund Adlai Stevenson: »Irgendjemand muss unser System korrigieren, und zwar schnell. Wir können nicht erwarten,

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