Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
englische Betulichkeit mit Orkanstärke entgegen. Wo es nur irgendwie möglich ist – auf Gehsteigen, Fensterbänken und an Laternenpfählen – stehen oder hängen üppig bepflanzte Blumenkästen. Das Prince of Wales Hotel (1863), das Bernard-Shaw-Theater, das Geschäft für Weihnachtsschmuck, die Andenkenläden, die Süßwarengeschäfte, all die rosafarbenen Läden – das alles ist Blümchentapete. Es sieht so aus, als würde in dieser merkwürdigen Stadt nicht gearbeitet, nichts wird hier hergestellt, nichts ist echt.
Ein Stück von der Queen Street entfernt ist wieder etwas vom normalen Leben zu spüren. Wir kehren in das Old Angel Inn ein, ein durch und durch britisches Lokal, dunkelbraun und gemütlich, mit lauwarmem Bier, fish and chips und sheperd’s pie und vor allem mit dem nicht zu leugnenden Geruch eines britischen Pubs.
Das Old Angel Inn hat sogar einen Hausgeist. Er heißt Captain Colin Swayze und war ein englischer Offizier, der während des Angriffs der Yankees auf Niagara-on-the-Lake im Mai 1813 im Keller des Inn landete und dort sein Ende fand. Laut der einen Version kämpfte er bis zum letzten Atemzug, um die Bewohner zu beschützen, laut der anderen tat er es, um seine Liebste zu retten. Captain Swayze spukt in seinem roten Rock nur im Keller umher, doch die Überlieferung besagt, dass er nach oben kommt, sobald der Union Jack an der Fassade entfernt wird. Vor der Kneipe hängt immer eine britische Flagge.
Captain Swayze fiel vermutlich – wenn es sich wirklich so abgespielt hat – bei einem der vielen Raubzüge während des sogenannten »Kriegs von 1812«, dem Epilog des Unabhängigkeitskriegs zwischen den Amerikanern und den Briten, der vor allem die Position Kanadas bestimmen sollte. Es war ein Krieg, der zum größten Teil aus der amerikanischen Erinnerung getilgt wurde, weil er letztendlich nichts einbrachte. Weder die Grenzen noch die Politik der beiden Widersacher änderten sich.
Es handelte sich um einen in jeder Hinsicht bizarren Konflikt: Die Briten verfügten über ein Heer von insgesamt einer Viertelmillion Soldaten und eine Flotte von rund sechshundert Schiffen; die Amerikaner hatten eine permanente Truppe von höchstens siebentausend Mann, und ihre Marine bestand aus sechzehn Kriegsschiffen und ein paar Booten. Außerdem war der unmittelbare Grund für den Konflikt bereits wieder aus der Welt, ehe der Krieg begann, aber diese Nachricht hatte die Amerikaner nicht rechtzeitig erreicht. Genau betrachtet, so meint Alan Taylor, handelte es sich um ein letztes Aufflackern des Bürgerkriegs, der der amerikanische Unabhängigkeitskampf im Kern war. Beide Parteien waren der Ansicht, der amerikanische Kontinent könne sich nicht zwei diametral entgegengesetzte Staatsformen leisten, auf der einen Seite die Vereinigten Staaten als selbständige demokratische Republik, und auf der anderen Kanada als Kolonie eines aristokratischen Imperiums. Daher, schreibt Taylor, sei dieser Krieg geführt und erlebt worden als Fortsetzung der Amerikanischen Revolution, die eine Generation zuvor stattgefunden hatte. Der militärische Konflikt sei ein Bürgerkrieg zwischen zwei rivalisierenden Vorstellungen von Amerika gewesen: die eine noch loyal gegenüber dem Empire, die andere geprägt von der republikanischen Revolution gegen ebendieses Empire.
Diese Uneinigkeit herrschte anfangs auch unter den amerikanischen Kolonisten. Der Erste Unabhängigkeitskrieg hatte mit einer Reihe von Irritationen und Konflikten zwischen Amerikanern und Briten angefangen. Die amerikanische Bevölkerung war schnell gewachsen, bis auf 2,5 Millionen im Jahr 1775, der Wohlstand hatte zugenommen, und die Amerikaner verlangten von London eine Behandlung, die ihrem neuen, selbsterworbenen Status entsprach. Jede Mitsprachemöglichkeit im britischen Parlament wurde ihnen jedoch nachdrücklich verweigert.
Am 16. Dezember 1773 kam es in Boston zu einer Schießerei zwischen Bürgern und britischen Truppen, nachdem neue Steuern auf Papier, Glas und Tee erhoben worden waren. Ein britisches Kriegsschiff, das eine unpopuläre Seeblockade kontrollierte, wurde in Brand gesteckt, eine Ladung Tee mit einem geschätzten Wert von 10 000 Pfund wurde in den Hafen von Boston geworfen, die berühmte Boston Tea Party vom 16. Dezember 1773. Danach eskalierte die Situation. Die Engländer schickten eine Besatzungsmacht, der Staat Virginia bezeichnete die britische Besetzung von Boston als »feindliche Invasion«, Milizen wurden zusammengetrommelt und
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