Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)

Dieweil bin ich auf dem Weg nach Detroit (etwa 360 Morde pro Jahr), Chicago (450) und New Orleans (170), aber es gibt nicht eine Behörde, die mich warnt.
    Am nächsten Morgen haben wir wieder einmal mit Fox News gefrühstückt, dem Fernsehsender, den hier alle gucken. Was bringt er um acht Uhr morgens? Wieder steht Europa, das plötzlich einer der gefährlichsten Orte der Welt zu sein scheint, im Mittelpunkt der Berichterstattung. News alerts flitzen vorbei, »Europaspezialisten« geben Tipps, wie ein möglicher Anschlag verhindert werden kann, und man weist uns auf besonders gefährliche Orte hin. Sogar der Bahnhof des Amsterdamer Flughafens erscheint für einen Moment auf dem Bildschirm. Meine Landsleute gehen brav mit Koffern und Aktentaschen zur Arbeit oder fahren in Urlaub, aber die aufgeregte Stimme der Moderatorin plappert pausenlos weiter: Das wird das zweite Kabul, lassen Sie es sich gesagt sein. Dann folgt ein Werbespot für Klappbetten und noch einer für eine Tablette gegen Depressionen, die einen in drei Wochen von dem Leiden befreit.
    Die Kommentatoren von Fox stoßen dazu. Mein Gott, ist Europa auf einmal gefährlich! Und darüber sind sich alle, mit unterschiedlichen Schattierungen, einig. Die Wahrheit ist hier, mit anderen Worten, etwas Soziales geworden. Sie ist nichts, wonach spürend und tastend gesucht wird, von Wissenschaftlern, Journalisten und anderen, so ehrlich, objektiv und professionell wie möglich. Nein, sie ist schlicht etwas, für das man einander auf die Schulter klopft. Ein Gefühl der Sympathie füreinander reicht aus. Die Wahrheit ist zu einem sozialen Phänomen geworden. Die Recherche, der ständige Zweifel, das ewige Streben nach Objektivität, charakteristisch für die Aufklärung, scheinen immer mehr durch eine Welt der Hypnose, des Exhibitionismus und des kollektiven Wohlbehagens ersetzt zu werden.
    Ich wechsle zu einem christlichen Sender. Noch mehr Nachrichten aus der bösen alten Welt, eine Werbesendung des International Fellowship of Christians and Jews für die »vergessenen Juden in der ehemaligen Sowjetunion«. Die Kampagne hat ein Bibelzitat als Motto. Jesaja 58, Vers 10: »Und wenn du dem Hungrigen dein Brot darreichst und die gebeugte Seele sättigst, dann wird dein Licht aufgehen in der Finsternis, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.«
    Wir sehen zunächst eine Abfolge von bedrückenden ukrainischen Zimmern, in denen verzweifelte Mütterchen sitzen, die aufgrund der hohen Arztkosten kein Geld mehr haben, um auch nur etwas Brot zu kaufen. Die Zuschauer können helfen: Für 15 Dollar erhalten diese Frauen eine food box . »Und auf einmal kommt dann jemand rein mit Essen«, sagt das Mütterchen. »Ein Engel.« Wer mehr spendet, kriegt ein Jesaja 58, 10- prayer packet .
    Mitten im Spot wird das Tempo erhöht, diese Bettelaktion ist gut gemacht. Jetzt werden auch Bilder vom Holocaust gezeigt, und die alte Frau aus Kiew berichtet, dass Juden immer noch diskriminiert werden. »Uns ergeht es genauso wie den Schwarzen in Amerika«, sagt sie, und der Moderator ruft uns zu: »Wollen Sie auch Gottes Segen empfangen? Dann greifen Sie zum Telefon, und seien Sie gesegnet! It is a marvellous experience to be a Christian […] For only fifteen dollars a box, you can […] Operation Isaiah 58 […] Prayer packets …«
    Es hat etwas Magisches: Amerika ist gut, und der Rest der Welt ist böse und schlecht – wer wollte da kein Engel sein?
    2
    Wir passieren die amerikanische Nordgrenze, ohne es so recht zu bemerken. Bei Niagara Falls führen ein paar große Brücken über den Fluss, und dahinter bewachen die Kanadier mit strenger Höflichkeit ihr Land. Steinbeck, der auf der ruhigen, kanadischen Seite des Eriesees nach Detroit hatte fahren wollen, wurde im Niemandsland zurückgehalten: Charley war nicht geimpft, und deswegen hätte es große Probleme bei der Wiedereinreise in die Vereinigten Staaten gegeben.
    Murrend setzte er seine Fahrt auf der amerikanischen Seite des Sees fort. Er nahm den neuen U.S. 90 highway , »einen breit in die Landschaft gefrästen Super-Highway, den vielspurigen Transporteur der Güter der Nation«. Der Bau des neuen Interstate Highway System hatte gerade begonnen, diese war eine der ersten Strecken. Die Autofahrer mussten sich noch daran gewöhnen, und am Straßenrand standen jede Menge Warnschilder wie: Do not stopp! No stopping! Maintain speed .
    Steinbeck war nicht sonderlich begeistert von diesen modernen vierspurigen Wegen. Es gab keine