Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
Obststände und Antiquitätenläden mehr am Straßenrand. Die Restaurants und diners waren Automatenhallen gewichen. Außerdem musste man die Wagen vor und neben einem scharf im Auge behalten. Er fuhr gegen den Wind »und spürte die harten, manchmal rüttelnden Böen des eigenen Fahrtwinds«. »Lastzüge, lang wie Frachtschiffe, überholten mich donnernd mit einem Fahrtwind, der mich wie ein Faustschlag traf.« Er hatte das Gefühl, durch eine Röhre zu fahren. »Wenn wir diese Schnellstraßen einmal quer durch das ganze Land haben werden, wie es früher oder später der Fall sein wird und sein muss, dann wird man von New York nach Kalifornien fahren können, ohne auch nur das Geringste zu sehen.«
An dieser Stelle nahm ich mir die Freiheit, von Steinbecks Route abzuweichen. Wir hatten keinen Hund dabei, nichts hinderte uns daran, den Ausflug nach Kanada zu machen, den Steinbeck ursprünglich geplant hatte. An der Grenze mussten wir aussteigen und uns in einen großen Raum mit Schaltern begeben; wir warteten, und dann wurden wir ernsthaft befragt: wer wir waren, wohin wir wollten, was wir dort vorhatten, wann wir das Land wieder verlassen würden. Hier kommt man nicht mit einem Nicken und einem Stempel hinein.
Doch dann befinden wir uns auf einmal in Europa: Die kommunalen Rasenflächen sind korrekt gemäht, an jeder Straßenecke leuchten Blumenkästen, das Benzin ist anderthalb mal so teuer, und mit der Disziplin auf den Straßen ist es seltsamerweise auch vorbei – niemand hält sich mehr an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Es regnet, die gewaltigen Wasserfälle sind in einen triefnassen Nebel gehüllt. Halb Japan und halb China scheinen unterwegs zu sein, um dieses Phänomen zu betrachten; alle in die gleichen dünnen Plastikmäntel gehüllt, die man geschenkt bekommt, wenn man es wagt, auf einem der kleinen Boote bis fast unter die Wasserfälle zu fahren. Imposant ist das Schauspiel zweifellos: Mit lautem Donnern stürzt der Inhalt von drei riesigen Seen sechzig Meter in die Tiefe; es ist, als würde der Herrgott eigenhändig die WC-Spülung betätigen.
Ich muss unweigerlich an Oscar Wilde denken, der hier 1882 gestanden und das Naturschauspiel für den Gipfel der Sinnlosigkeit gehalten hatte: »Einfach nur eine gewaltige Menge nutzloses Wasser, das in die verkehrte Richtung fließt und über nutzlose Felsen herabfällt.« Das Ganze wäre, so meinte er, erst dann ein wirkliches Naturwunder, wenn das Wasser nach oben fallen würde. So könnte man Dutzende hübsche Zitate anführen, denn die Wasserfälle waren schon immer für beinahe jeden Amerikatouristen Pflicht. Auch Charles Dickens zum Beispiel – er kam 1842 vorbei – ging beim Anblick dieses heiligen Ortes nur Erhabenes durch den Sinn: »Friede. Seelenfrieden; ruhiges Erinnern an Verstorbene; seelenerquickende Gedanken an ewige Ruhe, ewiges Glück.« Die legendäre französische Schauspielerin Sarah Bernhardt (die 1881 hier war) betrachtete die Wasserfälle vor allem als Kunstwerk oder, genauer gesagt, als Kulisse, denn das wahre Kunstwerk war natürlich sie selbst. Steinbeck sah in dem Phänomen in erster Linie eine vergrößerte Version der alten Bond-Lichtreklame auf dem Times Square, ebenfalls ein Wasserfall, allerdings aus Licht.
Wir spazieren durch den Regen auf der kanadischen Seite, von wo man die beste Aussicht hat. Alle großen Hotelketten haben ihre Türme gleich neben der brodelnden Urgewalt errichtet, und man kann die Wasserfälle auf jede erdenkliche Weise erleben: auf einem der kleinen Boote, die durch die Strudel fahren, in einem Tunnelsystem, das bis hinter die Wasserfälle reicht, in einem Superkino, in dem der Boden bebt und in dem es auch ein wenig regnet, mit Hilfe von Aufzügen, Aussichtstürmen, Hubschrauberrundflügen; man kann sich sogar in ein Riesenrad setzen – der Begriff experience ist allgegenwärtig. Ich habe nie zuvor einen Teil der Schöpfung gesehen, der so umfassend vermarktet wird wie diese Wasserfälle.
Ein paar Meilen weiter liegt Niagara-on-the-Lake, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Amerikanern zerstört und von den Briten wieder aufgebaut wurde. Das Städtchen scheint sich nie wieder von diesem Schrecken erholt zu haben. Es liegt weniger als eine halbe Stunde von der amerikanischen Grenze entfernt, aber es ist britischer als britisch, und darauf legen die Bewohner Wert. Wer auf die Hauptstraße biegt – die hier natürlich nicht Main Street heißt, sondern Queen Street –, dem weht die
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