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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Schlepptau fehl am Platz vor.
    Endlich stehen sie auf dem Bürgersteig und schlendern durch die Straßen. Jan überläßt es ihr, ein Gespräch zu beginnen, aber
     sie schweigt. Schließlich bleibt sie neben einem Papierkorb stehen, in dem zwei verbogene Regenschirme stecken.
    »Gestern ist hier ein
hurricane
durchgezogen«, sagt sie.
    »Hier in New York?« Jan ist überrascht. »Ich dachte, die gibt es in Florida oder so.«
    »Sie ziehen die Küste hoch.« Kristin nimmt einen der Schirme aus dem Abfall. »Hier in New York passiert in der Regel nichts.
     Nur die Holzhäuser auf dem Land fliegen auseinander.« Sie hält den Schirm über den Kopf. Die Fetzen des vom Sturm zerrissenen
     Bespannungsstoffs hängen wie Fledermäuse von der Drahtspinne und streifen ihre Haare. Sie dreht ihn auf den Schulterpolstern
     ihres |67| Jacketts. Unregelmäßige Schatten überziehen ihr Gesicht. Jan lehnt sich an die Fußgängerampel,
don’t walk.
    »Möchtest du ein Bier?« Sie klappt den Schirm zusammen und steckt ihn wieder in den Papierkorb.
    Sie geht über die Straße und betritt einen kleinen Drugstore. Für eine Minute ist Jan allein. Allein und unbeachtet an einer
     Straßenkreuzung in New York City, gegen dessen Zehn-Millionen-Einwohner-Nacht die Sterne keine Chance haben.
Boulevard of broken dreams –
die modernen Mythen sind nicht schlechter als die alten, denkt Jan, einfach und sentimental. Er konzentriert sich auf die
     Geräusche, die Motoren und vereinzeltes Hupen. Irgendwo jault eine Ambulanz oder ein Streifenwagen, und über allem liegt das
     beständige Rauschen der Air-condition-Anlagen. Ein Geruch weht vorbei, der Jan bekannt vorkommt: Metall, Moder und Gummiabrieb   – U-Bahn -Schweiß. Die Luft schmeckt nach pulverisiertem Asphalt. Für einen Augenblick vermißt Jan nichts.
    Kristin kommt zurück. Sie überqueren eine Straße, die zehnte oder elfte mittlerweile. Die Stadt liegt vor ihnen, ein Spielfeld.
    »Weißt du, daß ich Anfang der Achtziger Straßenmusik gemacht habe?« fragt sie. »Damals bin ich auf einen mittelmäßigen Musiker
     mit, sagen wir, philosophischer Aura hereingefallen. Erinnerst du dich noch, als wir uns in Amsterdam das erste Mal begegnet
     sind?«
    Jan sieht die Kneipe noch recht gut vor sich, die er seinerzeit mit Walter betreten hat und in deren hinteren Teil Kristin
     mit ihrem Geiger saß, den er von Anfang an unsympathisch fand, weil er einen wuchernden Bart hatte, in dem Jan nichts sah
     als eine mangelnde Bereitschaft, sich zu pflegen.
    »Er hatte mich vor irgendeiner Gracht nach einer Mozart-Sonate |68| angesprochen«, erzählt Kristin, »und behauptet, er hätte dieselbe Sonate mal von einem Zwerg gehört, der mit den Füßen spielen
     konnte.« Sie lacht kurz. Sie habe sich eine Weile mit ihm über das Geigenspielen und das Leben unterhalten. Dann gründeten
     sie ein Duo, das allerdings nicht erfolgreicher war als Kristin allein, was bedeutete, daß sich ihr Einkommen halbierte. Und
     die Geschichte mit dem Zwerg stellte sich als Lüge heraus, beziehungsweise als die halbe Wahrheit: Der Zwerg hatte wirklich
     mit den Füßen spielen können, einfache Melodien und Kinderlieder. Die Mozart-Sonate hatte er allerdings traditionell gespielt,
     mit den Händen.
    Als sie begriff, daß ihr Partner nicht nur ein Lügner war, sondern auch ein miserabler Geiger und zudem als Philosoph eine
     Niete, hat sie ihn verlassen   –, und zusammen mit dem Bild von ihrem Geigerphilosophen zerbröckelten ihre Träume von einem Leben jenseits der bürgerlichen
     Vorstellungen von Sicherheit und Wohlstand. Mathematik zu studieren war die vernünftige Alternative. Eine Heirat ohne Mann.
     Sie hatte die Hoffnung, alles in eine klare Form bringen zu können.
    Jan erinnert sich jetzt deutlicher. Sie saß damals mit dem Geiger an einem größeren Tisch, an der Wand hinter ihnen türmten
     sich die Geigen auf einem Polster aus grobgestrickten Pullovern. Als Walter bestellte, warnte der Geiger ihn vor dem holländischen
     Bier, von dem er selbst eine ganze Menge getrunken hatte. Im Suff rückte er immer näher an Kristin heran, tätschelte ihren
     Oberschenkel oder legte den Arm auf die Rücklehne ihres Stuhls. Kristin hatte bereits den Lügner, Trinker und Dilettanten
     in ihm erkannt, und als er auf der Toilette war, sagte sie, er sei ihr jetzt genug auf die Nerven gegangen und nahm ihre Geige.
     Sie verließen zu dritt die Kneipe und schlugen sich |69| an den Grachten die Nacht um die Ohren.

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