Amerikanische Reise
auf die Zehenspitzen gestellt wie eine Ballettänzerin.
Jan vergleicht das Bild, wie sie dort steht, mit dem Eindruck, den er damals hatte, als sie vor dem gefüllten Hörsaal ihre
Forschungsergebnisse über die nicht ganzzahligen Dimensionen vortrug. Damals trug sie noch kein Jackett mit wattierten Schultern,
sondern einen einfachen Baumwollpullover. Jans Vergleich fällt sehr zugunsten der heutigen Kristin aus, und er versteht Walter
nicht, der sich wünscht, Kristin möge sich wieder in eine Mathematikerin zurückverwandeln, was Jan ungefähr so vorkommt, als
wünschte man sich, eine Frau solle immer ein Mädchen bleiben.
Jan denkt zum ersten Mal, daß sein Lebenssystem in sich widersprüchlich ist. Er hat sich mit seinen Affairen nicht nur Freunde
gemacht, aber er hat nie offene Feindschaften herausgefordert. Freiwilligkeit gehört zu seinen Regeln, er verführt nicht mit
unlauteren Mitteln, er ist kein Don Juan. Er würde sich nicht duellieren; es mochte vor zweihundert Jahren unumgänglich gewesen
sein, weil es seinerzeit die zerrüttete Ehe offiziell und die erkaltete Beziehung prinzipiell nicht gab und somit jeder Geschlechtsakt
die Ehrverletzung eines Ehemanns, eines Vaters oder gleich eines ganzen Clans bedeutete. Für Jan war der scheinbar heroische
Impetus früherer Zeiten nichts als tödlicher Kinderkram. Es war weder wünschenswert noch notwendig, bei der Eroberung einer
Frau Leib und Leben zu riskieren, und es war heute nicht notwendig, sich zu prügeln oder sich wortreich zu beschimpfen, weil
sich vorher klären ließ, wieviel emotionale Energie in den Netzen steckte, die um Paare gewebt waren, und häufig genug war
es wenig, und es gab keinen Grund, auf sprödes und halb abgestorbenes Gewebe Rücksicht zu nehmen, das sowieso |65| beim nächsten Windstoß reißen würde. Letztlich fußte Jans System auf der Annahme, daß ein Wanderer immer wieder solchen Netzen
begegnete, die verlassen zwischen kahlen Ästen schaukelten.
Ihm war bewußt, daß seine Vorstellung vom Leben bedeutete, große Gefühle wie Liebe oder Haß, die hemmungslos aufs Ganze zielten,
auszugrenzen, wobei er diese Formulierung vermutlich als unzutreffend bezeichnet hätte, weil ausgrenzen voraussetzt, daß tatsächlich
etwas existiert, was auszugrenzen wäre. Er neigte aber vielmehr zu der Annahme, daß totale Gefühle eine Kulturleistung der
letzten Jahrhunderte und keine Naturgegebenheit waren. Die geradezu unanständige Überhöhung der Liebe im romantischen Liebestod
war für ihn der Beweis, daß das Gefühlsarsenal des Abendlandes eine Erfindung von Radikalethikern war, von Emotionsterroristen,
deren Ideen sich im Laufe der Zeit soweit trivialisiert hatten, daß sie sich mittlerweile in jedem Groschenroman wiederfanden.
Jan sah nicht ein, warum man sein Leben an hanebüchene Konstruktionen wie ewige Liebe oder göttliche Gnade verpfänden sollte.
Man wundert sich gelegentlich, wieviel Blut im Namen der Liebe und des Heils geflossen ist und noch fließt. Jan wunderte sich
darüber nicht, weil für ihn der Begriff Liebe dem gleichen diktatorischen und auf Totalität zielenden Denken entsprang wie
Haß, Gott oder Erlösung. Es gab keine Erlösung, aber – und das war aus seiner Sicht der Witz – es gab auch keine Notwendigkeit
für eine Erlösung, weil das Leben durchaus seine angenehmen Seiten hatte. Und wenn ihn der Streit zwischen Walter und Kristin
beunruhigte, dann nicht, weil er befürchtete, er könne ein auf immer gewirktes Band zerschneiden, sondern weil er wußte, daß
ihn innerlich nichts daran hinderte, sich gegenüber seinem Freund als Schwein zu erweisen.
|66| Kristin entdeckt Jan und kommt auf ihn zu.
»Wo ist denn Walter?« fragt sie.
»Er ist gerade gegangen«, sagt er. »Die Fotos haben ihm nicht gefallen.«
Kristin stellt sich vor ihn und sieht ihn an. »Ist er deswegen gegangen?«
Jan nickt. Er hat das Gefühl, daß sie ein Spiel spielt, das er nicht durchschaut. Vielleicht ist ihr ganzes Verhalten aber
auch nur Ausdruck einer Unsicherheit. Die meisten Verletzungen, das zumindest ist Jans Beobachtung, entstehen aus Unsicherheiten,
aus Schwäche.
Sie nippt an ihrem Champagner.
»Laß uns gehen«, sagt sie, stellt das Glas auf einen Vorsprung im Mauerwerk und geht zum Ausgang. Es dauert eine Weile, bis
sie sich hier und da noch verabschiedet hat. Sie tauscht ein paar Nettigkeiten aus und verteilt ein paar Küßchen. Jan kommt
sich in ihrem
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