Amerikanische Reise
Morgens trieb die Sonne Schacht um Schacht in den Nebel, leuchtende Säulen, an deren
Sockeln sich Lichtflecken auf dem Boden ausbreiteten wie verschüttete Milch. Sie setzten sich ins Auto und fuhren los.
Sie badeten in der Nordsee und lagen den Nachmittag über an einer windgeschützten Stelle in den Dünen. Jan fühlte sich an
die unschuldigen Zeiten am Anfang der Menschheitsgeschichte erinnert, lediglich als Kristin abends mit dem Sand auf ihrer
Haut ohne Unterwäsche in Jeans und T-Shirt stieg, wurde er auf unparadiesische Weise nervös. Als sie im Wagen saßen, mußte er an ihre blonde, sandige Scham denken.
Abends mieteten sie sich in einer billigen Pension in einem kleinen, langweiligen Nest ein. Jan lag auf dem Bett. Walter war
im Bad: »Du oder ich?« gurgelte er in die Zahnbürste. »Du«, sagte Jan, der nicht an Walters Erfolg glaubte, und schlief ein,
von einem Tag Seeluft betäubt. Morgens wachte er in Hemd und Hose auf und stellte fest, daß Walter zu Kristin gezogen war.
Er kam mit ihr zum Frühstück.
Jan fragt sich, ob sie von ihm jemals erfahren hat, daß er einen Tag zuvor noch dafür bezahlt hatte. Und er überlegte gelegentlich,
ob es anders hätte kommen können. Seinerzeit vermutlich nicht, weil Kristin – was Jan damals nicht wissen konnte – sofort
spürte, daß Walter – mehr als Jan – das krasse Gegenteil eines Philosophen war, und von Philosophen hatte sie damals genug.
Sie lästerte mit Walter über die Denker, und es fiel Walter leicht, witzig zu sein, weil er nie etwas für Grübeleien übrig
gehabt hatte. Er war in seiner Art ehrlich, das spürte Kristin sofort. Ihr war bewußt, daß sie selbst dazu neigte, alles ergründen
zu wollen, und als sie vor vier Jahren mit Walter in die |70| Vereinigten Staaten ging, glaubte sie, von New York mit seiner schillernden Diesseitigkeit einiges lernen zu können.
Einmal war sie mit Walter zusammen in einer der großen Diskotheken, und es erschien ihr fast irreal, als dort junge Frauen
mit winzigen Lackbikinis und schwarze Bodybuilder, deren Schwänze in faustgroßen Satinsäckchen steckten, an von der Decke
hängenden Seilen Kopulationsrituale zu ohrenbetäubendem Lärm vorführten. Die Körper der Frauen glänzten vor Schweiß. Sie mußte
daran denken, daß sie in deren Alter mit Wollpullover und Jeans vor einem aufgeklappten Geigenkasten auf dem Kopfsteinpflaster
Mozart gespielt hatte.
Rick, der Fotograf, den sie kurz darauf kennenlernte, war, wenn sich das sagen läßt, ein typischer Amerikaner. Sie empfand
ihn als oberflächlich und damit war er, wie sie fand, kein geeignetes Feindbild für Walter. Der aber sah nur das Etikett,
ein Künstler, und das erschien ihm zumindest bedenklich. Rick verfolgte bei seinen Aufnahmen kein Konzept – er fotografierte
einfach. Es verblüffte Kristin, mit welchem Gleichmut er zu seinen Modellen nach kurzem Plaudern sagte:
get undressed.
Es reizte sie, selbst einmal dort zu sitzen. Irgendwann bot sie ihm an, er könne sie fotografieren. Rick war einverstanden.
In der folgenden Zeit entwickelten sie die Idee von der Galerie, und Kristin sagte sich, daß, wer Zahlen organisieren kann,
auch Ausstellungen organisieren können müßte.
»Vor kurzem«, fährt Kristin fort und macht dann wieder eine Pause, »vor kurzem kam es in der Galerie zu einer Meinungsverschiedenheit
zwischen mir und Rick.«
Jan hat den Eindruck, daß sie überlegt, wieviel sie erzählen soll. Er erinnert sich, daß Walter vor ein paar Stunden denselben
Punkt angesprochen hat.
|71| »Walter will«, sagt sie, »daß ich wieder als Mathematikerin arbeite.«
Sie bleibt stehen. Auf der anderen Straßenseite flattert ein roter Baldachin über einem Geschäftseingang im Wind, daneben
Metallrolläden vor den Schaufenstern und davor schwarze und blaue Müllsäcke. Die Straßenlaternen leuchten schweinchenrosa.
Ein Jugendlicher sitzt auf einem Hydranten, ein anderer kommt dazu, und sie geben sich mit seltsam übertriebener Wichtigkeit
die Hand.
»Cindy weiß von Neil«, fährt Kristin fort, »daß Walter in der Bank gefragt hat, ob sie mich nehmen würden. Es könnte mir ja
egal sein, aber es ärgert mich.«
Die Jugendlichen sehen Kristin und Jan über die Straße hinweg an. Jan fragt sich, ob er sofort als Tourist zu erkennen ist.
Kristin dreht sich unwirsch herum. »Es ist nicht so wichtig«, sagt sie, stellt sich an die Straße, hebt den Arm und winkt.
Ein paar besetzte Taxen
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