Amerikanische Reise
wie zum letzten Mal. In wenigen Sekunden beantwortet sich seine Frage von selbst.
Unvermittelt umarmt ihn Kristin, küßt ihn und drückt ihn an sich, wie sie ihren Teddy in ihrer Kindheit an sich gedrückt haben
muß. Jan ist nicht mehr in der Lage, die Gruppe weiter zu verfolgen, weil er Kristin küssen muß, deren Augen sich unscharf
in seinem Blickfeld hin- und herbewegen, während sie mit ihren Händen in seinen Haaren herumstreicht, als wollte sie sie ausreißen.
Jan hört die Schritte der Jugendlichen hinter sich und spürt ein Kribbeln im Nacken in Erwartung eines Schlags. Endlich hebt
er seine Arme, die wie abgeschaltet an seinen Schultern hängen. Er hebt sie und umarmt Kristin, die ihn immer noch küßt. Ihre
Lippen sind rauh, leicht zerfurcht wie ausgetrocknetes, maseriges Holz – warm.
Jan steuert den Buick nach Kristins Anweisungen. Er braucht sich nicht zu konzentrieren, es geht geradeaus. Sie reden nicht.
Noch einmal zieht die Erinnerung an die Nacht vor zwei Tagen durch Jans Kopf: Kristins Körper, der im Neonlicht so weiß ist
wie der Embryo in ihr. Wie läßt sich feststellen, fragt sich Jan, was wirklich war? An Erinnerungen haftet kein Zertifikat,
das sie als Realität ausweist. Jede Vergangenheit ist eine Schnittmenge aus verschiedenen Erinnerungen, ein Puzzle, das, was
den Abend vor achtundvierzig Stunden angeht, nur verläßlich zu legen wäre, wenn er wüßte, welche Erinnerungen Kristin an diese
Nacht hat und an den Tag davor, als sie durch die
Badlands
gefahren sind und die Zungen aus geronnenem Gips bestaunt haben, die geschmolzenen Säulen und Pyramiden, die versteinerten
Dünen – und ein paar Stunden |112| später hat sich Kristins Hüftknochen bei jedem ihrer Schritte unter der Haut abgezeichnet wie der Grat einer dieser Dünen,
als sie nackt durch den Raum ging. Ihr Rücken war im Profil leicht gebogen, als sei ihre Wirbelsäule ein paar Zentimeter zu
lang. Die Bauchdecke dagegen spannte sich eben und pergamentfarben bis hinunter zur Scham. Ihre Brüste waren zu leicht, um
sich im Rhythmus ihrer Schritte zu bewegen. Bilder und Bilder.
Jan fragt sich, was es bedeutet hätte, wenn die Jugendlichen vor wenigen Minuten nicht harmlos gewesen wären. Hätte er in
der vergangenen Woche anders gehandelt, wenn es seine letzte gewesen wäre? Wohl nicht. Er hat versucht zu bekommen, was zu
bekommen war, und – wenn auch überraschend – am Ende mit Erfolg. Jan hat nie Verständnis für die Behauptung gehabt, das Leben
in einer Wohlstandsgesellschaft sei langweilig, weil es keine Herausforderungen biete. Gelegentliche Langeweile gehört zu
jedem Spaß dazu. Vielleicht wäre es schade, wenn einen der Tod in einer dieser Flauten träfe, einfach weil er einen schwach
vorfände, kraftlos. Aber vorhin, als er Kristin geküßt hat, ein Kuß, in dem für ihn die Fahrt durch den Kontinent noch einmal
lebendig wurde, die Tage, die Abende, die letzte Nacht – in dem Moment hätte er mit dem Tod leben können.
Kristin gibt ein Zeichen anzuhalten, ohne daß Jan die Gegend wiedererkannt hätte. Sie steigen aus, und Jan nimmt die Tasche
vom Rücksitz, die sie sich unterwegs gekauft haben zusammen mit ein paar T-Shirts zum Wechseln. Er schlägt die Tür zu und geht um den Wagen herum, Kristin hat auf ihn gewartet, und sie sehen sich noch einmal
an. Es geht jetzt nicht mehr um sie, sondern um Walter, der ein paar Stockwerke über ihnen wartet. Sie drehen sich |113| zur Tür und betreten das Treppenhaus, dann den Fahrstuhl, in dem Jan sich eingesperrt fühlt nach zweitausend Kilometern Highway.
Dann öffnen sich die Kabinentüren, der weiße Gang erscheint Jan fast irreal, nur Neonröhren, die nicht auf- und nicht untergehen.
Kristin bleibt vor der Wohnungstür stehen und holt den Schlüssel aus der Tasche. Jan fragt sich, was in ihr vorgeht. Sie kehrt
an den Ort zurück, den sie vor einer Woche verlassen hat, und nicht nur, daß ihr Streit mit Walter noch ebenso ungeklärt ist
wie vor der Fahrt – zusätzlich hat ihr Mann ein paar hunderttausend Dollar Schulden.
Als Jan vor einer Woche an dieser Stelle gestanden hat, war er gespannt darauf, Kristin wiederzusehen, und jetzt geht es ihm
so mit Walter: Wie sieht jemand aus, der sich ruiniert hat, der mit allen Mitteln den Erfolg gesucht und verloren hat. Und
einen Augenblick lang stellt er sich vor, Walter säße betrunken, dumpf und geschlagen in einem Sessel, seit Stunden schon.
Kristin
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