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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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er, wenn man die
     nötigen Schlüssel hat. Er schweigt einen Moment und stellt sich ans Fenster. Er habe, sagt er, die entsprechenden Schlüssel
     bereits vor zwei Jahren gefunden, mehr durch Zufall: eine Fehlfunktion im System, der er ohne Hintergedanken und rein dienstlich
     sozusagen nachgegangen sei, und mit einemmal war er im Kernbereich der Datenverwaltung, im Tresor gewissermaßen mit all den
     Schätzen, die dort herumlagen: Aktienpakete, die im Grunde kaum bewegt wurden, die dort nur verstaubten, weil ihre Besitzer
     sie nicht pflegten, träge Besitzer, denen das Wissen um ihren Reichtum genügte, Besitzer im wahrsten Sinne des Wortes, die
     auf ihrem Schatz saßen wie die Henne auf dem Ei, nur daß nie etwas schlüpfen würde aus ihrem Kapital, weil es nicht durch
     Bewegung befruchtet wurde. Walter sah sich um in der Gruft des Privatvermögens, einer Geldverwesungskammer ohne jeden Zweck,
     und er hatte sofort den Gedanken, was wäre, wenn man sich hier die eine oder andere Million borgen würde, um sie zum Leben
     zu erwecken, zu vermehren und anschließend wieder zurückzulegen in ihre Urne, während man den Gewinn für sich selbst verbucht.
     Ist das Unrecht? hat er sich gefragt. Ist das noch Diebstahl? Wem nimmt man etwas weg? Grabräuber sind nur die, die mit ihrer
     Beute auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist ein Borgen, mehr nicht. Ein ungefragtes, aber wen interessiert das schon.
     Hennen, die über ihren Eiern eingeschlafen sind, merken es nicht, wenn man sie ihnen kurz entführt. Das ungefähr ging ihm
     durch den Kopf bei seinem Streifzug durch das Tal der Könige. Aber er ist der Versuchung nicht erlegen, hat die Tür hinter
     sich leise wieder zugemacht und den Schlüssel in ein Schächtelchen gelegt: |117| ein paar kleinere Programme und Codes, die nicht mehr Raum einnahmen als der Textfile eines Allerweltsdossiers.
    »Ich habe Neil davon erzählt«, fährt Walter fort. Neil habe sofort glänzende Augen bekommen und konnte kaum verstehen, wieso
     Walter seine Ölquelle noch nicht angezapft hatte. Gefahrloser sei Kapital doch nicht zu bekommen, und er drängte Walter, doch
     zumindest einen Versuch zu wagen, irgendeine sichere Sache, die unmöglich schiefgehen konnte, ein Testlauf, und wenn am Ende
     nicht mehr dabei herausspränge als ein gutes Essen. Walter ließ sich überreden. Die Manipulation funktionierte reibungslos.
    Er wolle sich nicht entschuldigen, sagt Walter, aber für Außenstehende sei die Faszination des Verfahrens kaum nachzuvollziehen.
     Im Grunde sei es eine Möglichkeit, sich Geld zu verschaffen, ohne zum Dieb zu werden. Vielleicht sei man ein virtueller Dieb,
     aber erst, wenn die virtuelle Transformation zu einer realen werde, weil man einen Verlust eingefahren habe und das geborgte
     Ei nicht wieder zurücklegen könne, werde es gefährlich. Und selbst in diesem Falle könne es noch gutgehen, wenn das Huhn nicht
     aufwacht und durch irgendeinen teuflischen Impuls dazu veranlaßt wird, einmal nach seinem Ei zu schauen, sich einfach zu überzeugen,
     daß es noch da ist. Aber – und genau das ist vor drei Tagen passiert – es war nicht mehr da: zweihunderttausend Dollar, die
     fehlten und damit innerhalb einer Sekunde von einem Nichts zu einer Katastrophe geworden sind.
    »Wenn wir Zeit gehabt hätten«, sagt Walter und setzt sich, »wäre es vielleicht möglich gewesen, den Verlust wieder einzuspielen.
     Es wäre gefährlich geworden, weil wir höher hätten pokern müssen. Ich verstehe bis heute nicht, was eigentlich in Neil gefahren
     ist. Er hat das Geld vor etwa zwei Wochen entnommen und angelegt und |118| dann offenbar seelenruhig zugesehen, wie die gekauften Aktien gefallen und gefallen sind, bis nichts mehr übrig war, anstatt
     rechtzeitig zu verkaufen und den Schaden zu begrenzen.«
    Kristin nickt. Die gereizte Stimmung hat sich aufgelöst. »Vielleicht sollten wir morgen in Ruhe über alles nachdenken«, sagt
     sie. »Ich bin todmüde. Meinst du, daß es so lange Zeit hat? Sonst setze ich doch einen Kaffee auf. Einen europäischen«, fügt
     sie in Jans Richtung hinzu.
    Walter greift nach der Zigarettenschachtel. »Kein Problem«, sagt er. »Ich rauche noch eine Zigarette und komme dann.« Kristin
     steht auf. »Denk daran, daß Jan hier schläft«, sagt sie. Es ist nicht als Kritik gemeint, sondern als Hinweis, den Walter
     versteht. Er öffnet die Fenster und setzt sich wieder, während Kristin den Raum verläßt.
    »Wie weit seid ihr gekommen?«

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