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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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statt der erlaubten fünfundsechzig, mehr gibt der
     Buick nicht her. Jan nimmt den Fuß vom Gas, und die Tachonadel zeigt, wie nicht anders zu erwarten, keine Reaktion. Jan weiß
     nicht, wo er den rechten Fuß hinstellen soll.
    Endlich ein Schild,
Motel 6,
acht Meilen. Jan tastet auf der Rückbank nach einer Mineralwasserdose. Die Erschütterung hat Kristin nicht geweckt. Die Scheinwerfer
     eines entgegenkommenden Wagens legen auf ihr Gesicht eine künstliche Helligkeit. Die waagerechte Trennungslinie zwischen Licht
     und Schatten auf ihrem Hemd wird langsam |200| deutlicher und beginnt, sich kaum merklich Richtung Hals zu bewegen. Ihr Gesicht bekommt wieder Konturen, die Haare werden
     wieder blond, ein künstlicher Sonnenaufgang, es wird Tag und innerhalb einer Sekunde wieder Nacht. Jan läßt das Steuer einen
     Moment los und öffnet die Getränkedose. Sieben Meilen noch.
    Jan rechnet, wie lange er Kristin jetzt kennt. War er 1981 oder 1982 mit Walter in Holland? Es gibt nichts Unzuverlässigeres
     als innere Kalender, stellt er fest, die Jahreszahlen purzeln durcheinander wie Lottokugeln. Gelegentlich hat er das Gefühl,
     die wichtigen Jahre sind die ungeraden. 1981 also. Vor dreizehn Jahren wäre er demnach Kristin zum ersten Mal begegnet, und
     jetzt, während sie neben ihm liegt, weiß er, was er auf die Frage antworten würde, was er denn tun würde, wenn er nicht mehr
     lange zu leben hätte: Er würde sie lieben, wenn sie es wollte. Nicht, um vor dem Tod noch eine weitere Eroberung gemacht zu
     haben, sondern weil es ihm scheint, es müsse etwas anderes sein, mit ihr zu schlafen als mit jeder anderen Frau. Es kommt
     ihm vor, als sei dies die einzige Erfahrung, die ihm noch fehlt. Die einzig wertvolle.
    Ein weiteres ovales Schild schwebt heran: zwei Meilen noch. Jan bemerkt, daß sein Fuß wieder auf dem Gaspedal steht. Er nähert
     sich der Ausfahrt und setzt den Blinker, ein Signal ohne Adressaten. Die Leitplanken gleiten durch den Scheinwerferkegel,
     dann die Landstraße und nach ein paar hundert Metern das Motel. Jan passiert die von innen beleuchtete Reklame über der Einfahrt
     zum Parkplatz, steuert den Buick auf das flache Gebäude zu, eine weißgestrichene, langgestreckte Front mit Türen in gleichmäßigem
     Abstand, vor denen hier und da ein Wagen parkt. In einem Fenster links ein Schriftzug aus roten Digitalbuchstaben:
vacancies.
Jan läßt den Wagen daraufzurollen und stellt |201| den Motor ab. Er steigt vorsichtig aus, um Kristin nicht zu wecken.
    Die Rezeption ist ein einfacher, kärglich beleuchteter Raum mit Tresen. Eine junge Frau mit glatten, fettigen Haaren begrüßt
     ihn, ohne aufzusehen:
Yes, Sir?
Sie steht auf und schiebt ihm einen Block hin. Jan legt seine Kreditkarte auf die Ablage und füllt das Formular aus. Als er
     zurückkommt, steht die Beifahrertür offen und Kristin lehnt mit dem Rücken am Wagen.
    »Nummer acht«, sagt Jan. Sie nickt und schlendert über den Parkplatz.
    Das Zimmer ist gesichtslos, die Muster der Tapete und der Überdecke auf dem Bett vergißt man in dem Moment, in dem man ihnen
     den Rücken zukehrt. Es riecht nach Spuren von Drogerie-Rasierwasser und Neutralseife, vermischt mit der erkalteten Abluft
     eines Staubsaugers, alles zusammengerührt durch die Air-condition, die über der Tür einförmig rauscht. Eine Tischleuchte mit
     ferkelfarbenem Lampenschirm verleiht dem Zimmer den Charme eines angejahrten Polaroidfotos. Jan öffnet das Fenster und schaltet
     die Klimaanlage ab. Er setzt sich auf die Bettkante und läßt sich langsam zurücksinken. Das Prasseln der Dusche. Nach ein
     paar Minuten stellt Kristin das Wasser ab. Frottee reibt auf ihrer Haut.
    »Eine Zigarette wäre jetzt gut«, sagt Jan.
    Kristin kommt aus dem Bad, ein T-Shirt übergezogen wie jeden Abend. »Seit wann rauchst du nicht mehr?«
    »Seit ein paar Monaten.«
    Sie geht zur Tür, lehnt sich in den Rahmen und sieht über das Dach des Buick hinweg Richtung Autobahn, auf der sich nur sporadisch
     einzelne Lichter durch die Nacht bewegen. »Und wie ist es?«
    »Gesünder.«
    |202| Kristin verschwindet nach rechts, taucht am Fenster wieder auf und sieht ins Zimmer. »Du machst dir Gedanken um deine Gesundheit?«
    Jan verschiebt den Stoffwulst am Kopfende des Bettes und dreht sich zum Fenster. Das Gestell knirscht bei jeder Bewegung.
     »Nein«, sagt er.
    Kristin lehnt sich an den Fensterrahmen und legt den Kopf in den Nacken.
    »Was ist mit dir?« fragt Jan.
    Ein Kleinwagen biegt auf

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