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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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Guide:
Die ersten Siedler hatten der Gegend den wenig einladenden Namen gegeben, weil das Gelände mit ihren Planwagen nicht zu passieren
     war. Mit dem Auto ist es kein Problem, denkt Jan. Ihm fällt kein Hindernis auf. Er klappt die Sonnenblende herunter und öffnet
     das Fenster. Die Straße schlängelt sich durch das Grasland, in dem nichts Besonderes zu erkennen ist: eine fade Fläche ohne
     Orientierungspunkte, lediglich hier und da ein Erdaufwurf.
    Kristin steuert den Wagen nachdenklich durchs Gelände. Seit sie morgens ihre Zeitung und die Börsenkurse studiert hat, beschäftigt
     sie etwas. Sie kneift die Augen zusammen, die Sonne wandert von links nach rechts über die Windschutzscheibe. Jan legt den
Tour Guide
auf den Rücksitz. Er vermutet, Kristin denkt über den gestrigen Abend nach. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragt er.
    »Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagt sie.
    |208| Jan nickt und will sich bereits entschuldigen.
    »Wegen Walters Spekulationen«, fährt Kristin fort. »Diese ganzen Geschichten, die er mit Neil plant! Neil ist völlig unbegabt
     und hat kein Gefühl für Zahlen. Ich vermute, er macht nur Verluste, was er nicht merkt, weil er nicht rechnen kann.« Sie setzt
     ihre Sonnenbrille auf, behält eine Hand am Steuer und lehnt den linken Arm aus dem Fenster. »Gestern hat es an der Börse ein
     paar Einbrüche gegeben.« Der Fahrtwind wirbelt ihr die Haare um den Kopf. Wegen der hereinströmenden Luft muß sie lauter reden.
     »Manchmal kaufe ich selbst Aktien.«
    »Ach so?« Jan ist überrascht. Er hat angenommen, sie möge keine Spekulationsgeschäfte.
    Sie steuert den Wagen auf einen Aussichtsparkplatz, läßt ihn an den Bordstein rollen und hält an.
    »Warum auch nicht«, sagt sie. »Es ist Mathematik.«
    Sie steigen aus und gehen zur Begrenzungsmauer, dahinter bricht die Landschaft in die Tiefe und gibt den Blick frei auf eine
     pflanzenlose Erosionszone, auf staubige Gletscher und mit Geröll bedeckte Lehmzungen, als wäre grobes Mehl aus Säcken gerieselt.
     Runzlige Säulen wie in Tropfsteinhöhlen. Eine Landschaft aus Wachs, denkt Jan, die in der Sonne geschmolzen ist.
    Kristin setzt sich neben ihn. »Jedenfalls hat mich die Börsenseite heute morgen ziemlich beunruhigt.«
    Vom Parkplatz aus ragt ein Grat wie ein Steg weit hinaus in die mondfarbene Landschaft. Jan hätte gern einen Fotoapparat gehabt.
Marlboro Country.
    »Hast du Verluste gemacht?« fragt Jan.
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich war in letzter Zeit nur mit der Galerie beschäftigt. Aber Walters Verluste sind ja auch meine.«
    Jan nickt. Sein Schatten fällt hinunter ins Tal und ist |209| skurril überdehnt. Die Abhänge sind mit faustgroßen rissigen Lehmbrocken übersät. Kometensplitter, denkt Jan.
Shoemaker-Levi.
Wenn auf der Erde ein Komet herunterkäme, dann sähe es überall aus wie hier. Die Menschen würden ausgelöscht, und alles begänne
     wieder von vorn. Zottelige Primaten würden sich langsam wieder aufrichten, würden irgendwann das Feuer beherrschen, sich Felle
     umhängen, das Rad erfinden und schließlich mit dem Auto durch die Kometentrümmer fahren und darüber nachdenken, daß beim nächsten
     Komet alles von vorne beginnt. Aber Jan gehört nicht zu denen, die glauben, daß der Mensch genaugenommen kein Fortschritt
     gegenüber dem Affen ist, sondern ein Rückschritt, weil sich angeblich primitive Instinkte mit einer technischen Intelligenz
     paaren und es somit vermutlich gar keines Kometen bedarf, um alles wieder in Schutt und Asche zu legen. Jan hält seine Instinkte
     keineswegs für primitiv. Weder reizt es ihn insgeheim, Frauen zu vergewaltigen oder brandschatzend durch Dörfer zu ziehen,
     noch muß er sich peitschen oder kreuzigen lassen, um eine Erektion zu bekommen, und er ist sicher, daß er auch an Hexenverbrennungen
     oder Hinrichtungen kein Vergnügen hätte. Insgesamt ist er überzeugt, daß der Satz, der Mensch wird sich nie ändern, nur von
     denen vertreten wird, für die er gilt.
    »Wenn man hier sitzt«, sagt Kristin, »kann man sich schwer vorstellen, daß ein paar Prozentpunkte irgendeine Bedeutung haben.«
    »Dazu brauche ich nicht hier zu sitzen«, sagt Jan.
    Der Himmel liegt geräuschlos auf dem aus der Erde gequollenen Gips.
    Er ist nicht der einzige, denkt Jan, den Kristin zurückgewiesen hat. Rick, nimmt er an, wird es genauso gegangen sein. Er
     nimmt einen der herumliegenden Brocken auf. |210| Das Material ist leicht und zerfällt in mehrere Stücke, die den Hang

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