Amerikanische Reise
während er sich das Gesicht wäscht. Er nimmt das Handtuch von der Stange
und trocknet |205| sich ab. Er sieht in den Spiegel. Trotz des fahlen Lichts fällt ihm auf, daß er in den vergangenen Tagen Farbe bekommen hat.
Wie ist das Leben denn so? fragt er stumm sein Spiegelbild und bekommt keine Antwort. Er stützt sich auf. Er ist schlecht
rasiert, was er nicht mag. Er hängt das Handtuch auf. Durch das schräg gestellte Fenster des Bads dringt das Gezirpe und Gesumme
aus den umliegenden Wiesen. Ein akustisches Biotop, in dem Jan ein leises Stöhnen und Schreien zu erkennen glaubt. Sie bumsen,
denkt er. Vielleicht bildet er es sich auch nur ein. Er sieht sich an. Die Neonröhre unter der Decke brummt eintönig.
Die Rückkehr an einen Ort, an dem man sich einmal wohl gefühlt hat, an dem man vielleicht glücklich gewesen ist, ist fast
immer eine Enttäuschung. Was man sieht, deckt sich nicht mit den sanft glänzenden Erinnerungen. Die Landschaft ist nicht mehr
so anmutig oder auch karg und stolz wie erwartet, die Luft nicht mehr so geheimnisvoll oder angefüllt mit Kraftfeldern, die
Stimmung nicht mehr so heiter oder aufgeregt und die Menschen nicht mehr so entgegenkommend und liebenswert. Man kann versuchen,
diese Ernüchterung dadurch zu relativieren, indem man ein drittes Mal wiederkommt, ein viertes und fünftes, bis der Besuch
schließlich zu einem Ritual wird, in dessen Dunstkreis sich so viele Erinnerungen überlagern, daß eine Unschärfe entsteht,
in die sich jeder weitere Eindruck einpassen läßt. Das erste Bild aber, das einmal klar und stark gewesen ist, geht auf diese
Weise unwiederbringlich verloren.
Es wird gelegentlich darüber geklagt, daß es im Zeitalter des Massentourismus und der Bilderflut gar nicht mehr möglich ist,
im ursprünglichen Sinne zu verreisen. |206| Eine Art planetarer Striptease nehme den Menschen jegliche Chance, Entdeckungen zu machen und die Welt den eigenen Vorlieben
folgend zu enthüllen. Lohnt es überhaupt, in die Vereinigten Staaten zu fahren, nachdem man in ungezählten Fernsehserien,
Filmen und Nachrichten bereits dort gewesen ist? Der erste Besuch ist bereits der zweite mit all seinen Enttäuschungen und
Ernüchterungen.
Es gibt in den meisten Kulturen einen ersten Besuch, der im Grunde keiner ist, der nicht die Funktion einer Reise hat, sondern
die eines Rituals: die Wallfahrt – eine Reise also, bei der es gar nicht darum geht, eigene Erfahrungen zu machen, sondern
kollektive Erfahrungen zu teilen. Man könnte also sagen, daß die Menschen heutzutage immer mehr von Reisenden zu Pilgern werden
– die Bilder erzeugen eine Generation von Wallfahrern.
Es könnte aber sein, daß dem modernen Tourismus gar nicht das Bedürfnis nach individueller Reisefreiheit zugrunde liegt. Zwar
wird keine Reise mit dem Etikett: Hier fahren alle hin! verkauft, was allerdings nicht bedeuten muß, daß die Werbestrategien
der Reiseanbieter ein reales Fundament haben und es den Menschen tatsächlich darum geht, beim Reisen individuelle Erfahrungen
zu machen. Je lauter es behauptet wird, um so mehr muß bezweifelt werden, daß wir wirklich im Zeitalter des Individualismus
leben. Die Annahme, die Menschheit sei innerhalb von ein paar Jahrzehnten zu einer Spezies von Entdeckern mutiert, klingt
nicht sehr plausibel.
Vielleicht ist der Motor des Massentourismus nicht das Bedürfnis nach Freiheit, sondern das viel tiefer liegende religiöse
Bedürfnis nach Entindividualisierung, nach Aufgehobensein in einem kollektiven Ganzen, das versucht, sich des Wohlwollens
eines höheren Wesens zu versichern. |207| Die Menschen wollen nicht verreisen, sie wollen wallfahren – ein Reinigungsritual, das sie gestärkt wieder entläßt in die
Welt des Alltags, in der sie sich aufhalten und die immer ihr Zuhause bleiben wird, aus dem sie in Wirklichkeit gar nicht
ausbrechen wollen.
Es gibt nur wenige, die unheilbar darunter leiden, daß sie die Intensität des ersten Mals niemals wieder werden erreichen
können, die im Ritual keinen Trost finden. Sie werden die bescheidenen Freuden der vielen immer geringschätzen, verachten
oder hassen und sich in dunkler Weise vom Tod angezogen fühlen, als sei nur dort zu bekommen, was das Leben nicht bieten kann:
Der Tod als einzige Reise, die sich nur einmal machen läßt.
Badlands.
Kristin läßt den Wagen an den Schalter rollen und löst ein Rundfahrtticket. Jan blättert im
South Dakota Tour
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