Amerikanische Reise
hat das Gefühl, ihr wegen des gestrigen Abends einen Gefallen schuldig zu sein. Außerdem
fällt es ihm im Moment sowieso schwer, ihr etwas abzuschlagen. »Aber er wird sich wundern, daß du nicht selbst anrufst«, sagt
er, um sie vielleicht doch noch umzustimmen. Die Bedienung kommt an den Tisch, und Jan läßt sich einen Blueberry-Muffin bringen.
»Er wird wissen wollen, wieso?« Das einfachste, denkt er, wird es sein, Walter zu erzählen, daß Kristin jeden Morgen die Börsenberichte
in der
New York Times
mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und nun beunruhigt ist wegen der Kurse. Das wird ihm schmeicheln, und möglicherweise lenkt
das Thema ihn ab. »Im übrigen«, fügt er hinzu, »wird es ihn interessieren, wann wir zurückkommen.«
|213| Kristin sieht Jan an. Eine Spur des gestrigen Abends, einen leisen Vorwurf beispielsweise, kann er in ihrem Verhalten nicht
entdecken. Jan fühlt sich schon jetzt in der Vermittlerrolle, in die sie ihn drängen möchte, unwohl. Er sollte sich das Telefonat
nicht aufhalsen lassen.
»Was meinst du denn?« fragt sie.
Jan hebt die Schultern. »Zwei Wochen sind eh zu kurz, um alles zu sehen«, sagt er. Der Muffin wird gebracht und ist zu trocken.
Jan steht auf und geht zum Telefon. Er ist jetzt überzeugt, daß Walter skeptisch sein wird und annimmt, daß sie sich von morgens
bis abends in irgendwelchen Motelbetten herumtreiben.
Jan geht an der Glastheke mit den Sandwiches vorbei – bleiche Dreiecke mit einer roten, wulstigen Narbe zwischen den Weißbrotscheiben.
Die Drehhocker stehen einsam Spalier vor dem Tresen, und Serviettenspender und Zahnstocher warten auf Kundschaft, von der
man nicht recht weiß, wo sie eigentlich herkommen soll. Vielleicht, denkt Jan, ist Walter überhaupt nicht zu Hause, was allerdings
bedeuten würde, daß er sich eine Nachricht für den Anrufbeantworter zurechtlegen müßte. Jan vermutet, daß mit dem Auto die
Rückfahrt nicht schneller als in zwei Tagen zu machen sein dürfte. Er könnte also ihre Ankunft frühestens Sonntag nacht oder
Montag früh ankündigen. Wenn er morgen mit Kristin umkehrte. Aber warum sollte er?
Er erreicht das Telefon und bleibt noch eine Weile vor dem Gerät stehen. Er starrt auf das blaue Gehäuse mit dem silbernen
Tastenfeld und den Kurzinstruktionen darüber. Hoffentlich entschuldigt er sich nicht wegen des Streits mit Kristin, denkt
Jan. Es wäre ihm unangenehm, wenn Walter mit halbherzigem Pathos die Schuld auf sich nehmen würde, um mit ihr einen trüben
Frieden zu schließen. |214| Und er, der sich in sie verliebt hat, müßte die Botschaft überbringen.
Er nimmt den Hörer ab. Sie werden sich gegenseitig nicht trauen, denkt er.
Kristin trinkt ihren Kaffee und sieht regungslos aus dem Fenster. Die Luft über der Steppe flimmert silbern. Ein Wagen rollt
auf den Parkplatz, der erste, seit sie den Highway verlassen haben. Ein Paar steigt aus und schlendert auf das
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zu, der Mann erinnert Kristin an Rick – Rick, mit dem sie morgens durch New York geschlendert ist und der sie wieder und wieder fotografiert hat, bis sie sich seinen
Mantel übergezogen hat, weil sie zu frieren begann. Rick, der vor ihr auf die Knie gefallen ist und ihr seine Liebe gestanden
hat. Rick, der immer theatralische Rick, in dessen Atelier sie nackt gestanden hat, der sich hinter sie gestellt, seine Hände
auf ihre Hüften gelegt und langsam ihren Körper abgetastet hat. Sie war erregt wie lange nicht.
Die beiden Touristen betreten das Restaurant, gehen an Kristin vorbei und setzen sich im hinteren Teil des Raumes ans Fenster.
Sie bestellen, und auch die Stimme des Mannes erinnert Kristin an Rick.
Jan kehrt zurück. »Ich soll dich grüßen«, sagt er, setzt sich und trinkt einen Schluck Kaffee, der aber kalt geworden ist.
Kristin sieht auf. »Was hat er gesagt?«
»Es ist alles in Ordnung.«
Die Versicherung kommt ihr pflichtschuldig vor, als gebe es doch etwas, das nicht in Ordnung sei.
»Wie geht es ihm?« fragt sie, merkwürdig sanft, fast wie unter Drogen, findet Jan, als liege Walter bereits mit einer Kreislaufgeschichte
im Krankenhaus. »Ist er verärgert?«
»Ich denke, er hat sich beruhigt.« Jan versucht, der Kellnerin |215| ein Zeichen wegen des Kaffees zu geben. »Ich soll dir sagen, daß es ihm leid tut.«
»Wirklich?« Kristin sieht Jan überrascht an, und ihr Blick macht deutlich, daß sie für einen Moment aus ihrer Trance erwacht
ist. »
Das
hat
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