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Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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hinunterkullern. Jan nimmt einen zweiten Klumpen und
     wirft ihn ins Tal. Er zerplatzt beim Aufschlag, so wie
Shoemaker-Levi
auf dem Jupiter zerplatzen wird – eine Explosion, und alles ist vorbei.
    Die einzig akzeptable Vorstellung vom Ende der Existenz bietet nach Jans Auffassung der Buddhismus beziehungsweise das, was
     er sich unter Buddhismus vorstellt, der, soweit er weiß, als Ziel keine Verlagerung der Existenz in irgendein Jenseits predigt,
     sondern – sieht man von diversen Wiedergeburtszyklen ab, in denen Jan ein Zugeständnis an naive Volksreligiosität vermutet
     – das Nirwana als Endstadium annimmt, also ein Nichts und die Einwilligung des Menschen in dieses Nichts: einmal gelebt und
     fertig – keine Verlängerung, kein Elfmeterschießen, was bedeutet, daß es sich nicht lohnt, auf Zeit zu spielen. Die Tore,
     die man nicht geschossen hat, werden einem auch vom Jüngsten Gericht nicht zugesprochen.
    »Walter würde sich langweilen hier draußen«, sagt Kristin. »Er wird sich fragen, was wir den ganzen Tag über machen.«
    Ihre Bemerkung reißt Jan aus seinen Gedanken. Was würde er Walter antworten: Gestern wollte ich deine Frau verführen, aber
     sie ist standhaft geblieben? Daß Kristin ihn abgewiesen hat, schmerzt Jan. Etwas sagt ihm, daß die Gelegenheit nicht wiederkommt.
    »Nun ja«, sagt sie und steht auf. »Ich denke, es wird alles in Ordnung sein.«
    Vielleicht, denkt Jan, würde sich Walter freuen zu hören, daß sie sich Sorgen wegen der Börsenkurse macht, daß ihr seine Arbeit
     nicht völlig gleichgültig ist. Er steigt in den Wagen. Kristin läßt den Motor an, der Weg schlängelt sich eine Weile entlang
     des Abbruchs. In einiger Entfernung |211| ragt ein dreizackiger Bergkamm über die Ebene, und nach einer engen Kurve taucht die Straße hinab in die Sedimentationen;
     ausgelaugtes, nicht lichtechtes Gestein. Salzteig.
    »Und?« fragt Kristin.
    »Beeindruckend«, sagt Jan.
    Sie konzentriert sich auf den Weg, der sich jetzt kurvenreich auf und ab windet. Sie fährt langsam und steuert mit einer Hand
     durch Zungen sandfarbener Lava und Pyramiden aus Tuff, durch versteinerte Dünen und erstickte Grasbüschel. Dann weitet sich
     die Landschaft wieder, erneut Steppe, eine hellgrüne, in der Hitze flirrende Ebene, aus der vereinzelte Kalkinseln wachsen,
     als versinke ein gebirgiger Kontinent in der Prärie.
    »Wie wäre es mit einem Kaffee«, schlägt Jan vor.
    Kristin nickt. Seit langem ist ihnen kein Wagen mehr begegnet, eine Leere, die sie seit Chicago begleitet. In einiger Entfernung
     zeichnen sich ein paar flache Gebäude ab, eine amerikanische Flagge weht an einem Mast, daneben eine andere, die Jan nichts
     sagt. Kristin steuert auf den Parkplatz und stellt den Motor ab. Ein gleichmäßiger Wind läßt die Drahtseile hell und arhythmisch
     gegen die Maste dengeln, die Fahnen schmatzen in den Böen. Kristins T-Shirt flattert, als sie über den Asphalt schlendert, und einen Moment lang bedauert Jan, keine Fotos machen zu können.
    Sie betreten das Gebäude und bestellen Kaffee.
    »Wir müssen Walter anrufen«, erklärt Kristin.
    Jan wundert sich, wieso sie
ihm
das verkündet. Schließlich ist Walter ihr Mann, denkt er und sagt: »Grüß ihn schön von mir.«
    Sie sieht ihn halb ernst an und halb mit einer Miene, mit der man zugibt, daß man hin und wieder irgendeine blödsinnige |212| Fernsehserie einschaltet. »Könntest du ihn nicht anrufen und ihn fragen, ob alles in Ordnung ist?«
    Jan blättert in der Karte und überlegt, ob er etwas essen soll. »Entschuldige, aber das meinst du nicht ernst«, stellt er
     fest. »Walter wartet seit Tagen auf deinen Anruf.«
    »Doch wirklich«, sagt sie. »Frag ihn, ob alles okay ist, und sag ihm, ich rufe ihn später an.«
    Jan wirft einen Blick durch das leere Restaurant und fragt sich, wie sie sich das vorstellt. Walter wird wissen wollen, was
     mit ihr los ist, ob sie zur Vernunft gekommen ist, und Jan wird eine Hülle blasser Normalität aufspannen und in beiläufigem
     Tonfall sagen, daß sie sich die Gegend ansehen und sicher in ein paar Tagen zurück in New York sein werden. Was soll er denn
     sonst sagen? Daß sie sich irgendwo in South-Dakota in einer Art Urlandschaft oder Atombombentestgebiet befinden, daß sie in
     Motels übernachten, daß Kristin Slips mit zwei Finger breiten Hüftstegen trägt und daß er sich in sie verliebt hat?
    Jan sieht sie an und spürt, daß es ihr ernst ist.
    »Meinetwegen«, sagt er mürrisch. Er

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