Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Amerikanische Reise

Titel: Amerikanische Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
Vom Netzwerk:
er gesagt? Gut, daß
du
ihn angerufen hast. Mir hätte er es wahrscheinlich nicht gesagt.«
    »Nein, er ist wirklich zerknirscht. Aber irgendwie auch abwesend. Er hat sich gewundert, daß du dich für die Börsenkurse interessierst.
     Das mit den Aktien wird hochgespielt, sagt er.« Jan beißt auf den Resten seines vertrockneten Muffins herum.
    Kristin nickt langsam.
    »Er fragt, wann wir zurückkommen. Ich habe gesagt, du rufst ihn heute abend an«, sagt Jan. Die Bedienung kommt mit einer kugelförmigen
     Glaskanne, in der auch ein Goldfisch schwimmen könnte, an den Tisch und schenkt Kaffee nach. Jan bedankt sich. »Walter ist
     gegen acht wieder zu Hause. Er hat mir vorgerechnet, daß wir zwei Stunden hinterher sind. Du kannst ihn also ab sechs, halb
     sieben erreichen.«
    »Aber sonst ist alles okay?« Kristin scheint es noch immer nicht glauben zu wollen. Vielleicht, denkt Jan, hat sie mittlerweile
     doch ein schlechtes Gewissen.
    »Nein wirklich, es ist alles in Ordnung«, wiederholt er, wie um sich selbst davon zu überzeugen, was ihm schließlich auch
     gelingt.
    Er läßt sich noch einmal Kaffee nachschenken. Während die Bedienung mit ihrer Kanne wieder hinter den Tresen taucht, steht
     ein paar Tische weiter einer der beiden Gäste auf, die vor wenigen Minuten das Restaurant betreten haben. Er kommt auf Jan
     zu und grüßt auf deutsch mit amerikanischem Akzent. Er heiße Hank und habe ein Jahr in |216| Deutschland studiert, Anfang der Siebziger. Jan gibt ihm die Hand und rückt auf seiner Bank ein Stück zur Seite.
    Hank trägt ein blaues Poloshirt, hat rötliche Haare und einen Sonnenbrand auf der Nase. Er ist Mitte Vierzig, wirkt durch
     die formlose Direktheit, mit der er Jan anspricht, aber jünger. Er winkt seine Frau, Ariel, an den Tisch, eine Dunkelhaarige
     Ende Zwanzig, die für Jans Geschmack etwas zu weiche Gesichtszüge hat, eine kurze, leicht nach oben gebogene Nase und einen
     nicht erneuerten Lidstrich vom vergangenen Abend.
    Hank freut sich, mitten in den USA unerwartet auf Deutsche zu treffen. Die Lässigkeit des Studentenlebens in Berlin hat ihn
     davon überzeugt, die Deutschen seien ein unkompliziertes Volk. »Wir sind nie an der Uni gewesen«, sagt er und lacht vergnügt.
     Daß Jan in Berlin wohnt, freut ihn besonders.
    Ariel, seine Frau, hat wie er Deutsch studiert, in Boston allerdings, wo sie sich vor acht Jahren kennengelernt haben. In
     Deutschland war sie noch nicht. »Als die Mauer gefallen ist«, sagt sie, »haben wir Tag und Nacht vor dem Fernseher gesessen.«
     Kristin nickt, aber Jan hat nicht den Eindruck, als sei sie an dem Gespräch interessiert. Seit er mit Walter telefoniert hat,
     kommt sie ihm abwesend vor.
    Hank steht auf und holt Ariels Orangensaft und seinen Kaffee. Mit den roten Haaren, der hellen Haut und dem etwas breiteren
     Gesicht wirkt er irisch. Bei Ariel ist die Herkunft schwerer zu bestimmen, ihre Augen haben einen südländischen Einschlag,
     wozu allerdings die Nase nicht paßt. Um ihr Handgelenk trägt sie ein paar Bronzearmreife, und ihre Fingernägel sind brüchig
     lackiert.
    Hank erzählt, daß er nach dem Fall der Mauer vorgeschlagen hat, eins der buntbemalten Betonsegmente zu kaufen. »Es war der
     Stadtverwaltung aber zu teuer«, bedauert |217| er. Die Vereinigung war für ihn ein Beweis, wie unkompliziert die Deutschen sind. Kein umständliches Hin und Her, sondern
     klare Verhältnisse in kürzester Zeit. Präsident Johnson, Andrew Johnson, habe 1867   Alaska zum Spottpreis von sieben Millionen Dollar von den Russen gekauft. Und die Holländer hätten Manhattan für eine Handvoll
     Dollars den Indianern abgehandelt. Abraham Lincoln sei es noch möglich gewesen, einen Bürgerkrieg auszulösen. Diesen Mut würde
     heute niemand mehr aufbringen. Politik heiße, Entscheidungen treffen.
    »Wohin fahrt ihr?« fragt er, nachdem sie sich eine Weile unterhalten haben.
    Jan findet, Kristin müßte antworten.
    Hank schlägt vor, sich die in den Fels gehauenen Präsidenten anzusehen. Gemeinsam. Der Mount Rushmore sei nur zwei Stunden
     entfernt, er würde sich freuen, wenn Kristin und Jan mitkämen. Seine Begeisterung ist unschlagbar. Selbst Kristins Abwesenheit
     hält dem Druck seiner Idee nicht stand. Sie lächelt Hank an und nickt. Die Präsidenten habe sie schon immer sehen wollen.
     Jan wundert sich. Er hätte darauf gewettet, Kristin sehe in den Präsidentenköpfen nichts als einen Beweis dafür, daß die Amerikaner
     eine hoffnungslos dem

Weitere Kostenlose Bücher