Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
ausgerichtet, denn sie haben keine Gesichter aufgenommen. Und keine digitalen Hilfsmittel der Welt können jemanden bewegen, zur Linse aufzublicken.
Paul Magee hat uns allein gelassen. Ich spule das Überwachungsvideo zurück und spiele es noch einmal ab. Während wir beobachten, wie das Mädchen die Rolltreppe abwärts nimmt, beugen wir uns vor, als wollten wir sie mit Willenskraft dazu bringen, in die Kamera zu gucken. Am Fuße der Rolltreppe bleibt sie einen Moment stehen, als wüsste sie nicht, wohin sie gehen soll. Mrs. Bird kommt ins Bild, ein paar Sekunden später auch Mr. Bird. Er pflanzt seine Gehhilfe in den Boden und schlurft hinter seiner Frau her. Man sieht, wie Mrs. Bird etwas zu dem Mädchen sagt, das sich nun abwendet und auf den Bahnsteig für die Züge Richtung Süden verschwindet.
In der unteren rechten Bildschirmecke werden Datum und Uhrzeit angezeigt. 25. Juli, 22:14. Mittwochabend.
Eine zweite Kamera auf dem Bahnsteig hat das Mädchen noch einmal aufgenommen, allerdings aus größerer Entfernung. Sie scheint allein zu sein. Eine plumpe, dunkelhaarige Frau in Schwesternuniform ist an ihr vorbeigegangen.
»Und was glauben Sie?«, frage ich Rachel.
Sie antwortet nicht. Ich wende mich ihr zu und sehe Tränen in ihren Augen, sie kullern über ihre Wangen, als sie blinzelt.
»Sind Sie sicher?«
Sie nickt, immer noch stumm.
»Aber das Mädchen hätte sieben oder siebzehn sein können. Man erkennt nicht mal ihr Gesicht.«
»Sie ist es. Ich kenne meine Tochter. Ich weiß, wie sie geht und wie sie den Kopf hält.«
In neun von zehn Fällen würde ich annehmen, dass nichts als der verzweifelte Wunsch einer Mutter, ihre Tochter möge noch leben, dahintersteckt. Deswegen habe ich Rachel das Video vor drei Jahren nicht gezeigt. Ich hätte riskiert, die ganze Ermittlung aus der Bahn zu werfen, dutzende von Beamten auf einen weit hergeholten Hinweis anzusetzen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken, statt sie auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren.
Jetzt glaube ich Rachel. Ich weiß, dass in diesem Land kein Richter und kein Geschworener akzeptieren würde, dass die Person auf dem Video jenseits aller begründeten Zweifel Mickey ist, aber das spielt keine Rolle. Der Mensch, der sie am besten kennt, ist sich sicher. Am Mittwoch, dem 25. Juli – zwei Tage nach ihrem Verschwinden – hat Mickey noch gelebt.
31
Die einzige andere Person in Joes Wartezimmer ist ein Mann mittleren Alters mit einem billigen Anzug, der an den Schultern ausbeult, wenn er die Arme verschränkt. Er stochert mit einem Streichholz in seinen Zähnen herum und beobachtet, wie ich Platz nehme.
»Die Sekretärin ist Kaffee holen gegangen«, sagt er. »Der Professor hat einen Patienten.«
Ich nicke und merke, dass er mich beobachtet. Schließlich fragt er: »Kennen wir uns?«
»Ich glaube nicht. Sind Sie Polizist?«
»Ja. Detective Sergeant Casey. Man nennt mich das Schlitzohr. « Er rutscht ein paar Stühle näher, streckt die Hand aus und mustert gleichzeitig Rachel.
»Und wo arbeiten Sie?«
»Für die Sitte in Holborn.«
Er sitzt neben mir und empfindet wohl kollegiale Kameradschaft. Wahrscheinlich sollte ich mich an sein Gesicht erinnern, aber in den letzten zehn Jahren haben viele Typen seines Alters die Truppe verlassen.
»Kennen Sie den?«, fragt er. »Wie viele Polizisten braucht man, um einen Mann die Treppe hinunterzuwerfen?«
»Ich weiß nicht. Wie viele?«
» Gar keinen. Er ist gestürzt.«
Roger lacht, und ich quäle mir ein Lächeln ab. Er zieht eine Augenbraue hoch und verstummt.
Die Sekretärin vom Professor kommt mit mehreren Bechern Kaffee und einer fettigen braunen Kuchentüte zurück. Sie sieht aus, als wäre sie gerade erst mit der High School fertig geworden,
und blinzelt mich durch eine Nickelbrille an, als hätte sie wissen müssen, dass ich komme.
»Ich bin Detective Inspector Ruiz. Können Sie dem Professor sagen, dass wir hier sind?«
Sie seufzt. »Vor Ihnen ist noch jemand dran.«
Im selben Moment geht die Tür zu Joes Behandlungszimmer auf, und eine Frau mit rot geränderten Augen kommt heraus.
Joe folgt ihr.
»Ich sehe Sie dann nächste Woche, Christine. Und denken Sie daran, dass es nicht unanständig ist, einen Hosenrock zu tragen, und es macht Sie auch nicht weniger weiblich.«
Sie nickt, ohne den Blick zu heben. Auch alle anderen im Raum schlagen die Augen nieder, nur Roger kichert. Die arme Frau flüchtet den Flur hinunter.
Joe starrt Roger wütend an, aber als er
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