Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
ab.
»Ich glaube, wir haben damals auch über Ihre Brille gesprochen, erinnern Sie sich?«
Sie streicht sich verlegen über die Nase. »Ja.«
»Sie haben sie nicht aufgehabt?«
»Nein. Normalerweise vergesse ich sie nie.«
»Hatte das Mädchen Ohrlöcher?«
»Ich weiß es nicht. Sie ist zu schnell weggelaufen.«
»Aber Sie sagten, Sie hätten die Zahnlücke und die Sommersprossen bemerkt. Außerdem hatte sie etwas in der Hand. Könnte das ein Badelaken gewesen sein?«
»Oh je, ich weiß nicht. So genau habe ich nicht hingeguckt.
Es waren noch andere Leute auf dem Bahnsteig. Die müssen sie doch auch gesehen haben.«
»Wir haben nach ihnen gesucht, aber niemand hat sich gemeldet. «
»Oh je.«
Eine Teetasse klappert auf ihrer Untertasse. Rachels Hände zittern. »Haben Sie Enkelkinder, Mrs. Bird?«
»Oh ja, sechs Stück.«
»Wie alt sind sie?«
»Zwischen acht und achtzehn.«
»Und das Mädchen, das Sie auf dem Bahnsteig gesehen haben, war ungefähr so alt wie Ihr jüngstes Enkelkind jetzt.«
»Ja.«
»Hat sie einen verängstigten Eindruck gemacht?«
»Einen verlorenen. Sie wirkte verloren.«
Rachel starrt sie mit beinahe ekstatischer Eindringlichkeit an.
»Es tut mir Leid, dass ich mich nicht an mehr erinnern kann. Es ist so lange her.« Mrs. Bird betrachtet ihre Hände. »Das Mädchen sah aus wie sie, aber als die Polizei dann diesen Kerl verhaftet hat … na ja … ich dachte, dass wir uns wohl geirrt haben müssen. Wenn man älter wird, spielt einem das Auge manchmal Streiche. Es tut mir sehr Leid wegen Ihrer Tochter. Noch eine Tasse Tee?«
Als wir wieder im Wagen sind, bombardiert mich Rachel mit Fragen, die ich zum größten Teil nicht beantworten kann. In der Woche nach ihrem Verschwinden war Mickey angeblich dutzende Male gesehen worden. Ohne unabhängige Bestätigung und in Anbetracht der Tatsache, dass Mrs. Bird ihre Brille nicht getragen hatte, konnte ich mich auf ihre Aussage nicht verlassen.
»In dem Bahnhof muss es doch eine Kamera geben«, sagt Rachel.
»Die Bilder sind nutzlos. Wir konnten nicht mal erkennen, ob es ein Kind war.«
Aber Rachel ist nicht davon abzubringen. »Ich will die Bilder sehen.«
»Gut. Denn genau dorthin fahren wir gerade.«
Die Zentrale der London Underground liegt am Broadway, gleich um die Ecke von Scotland Yard. Der Bezirkskommandant der Transport Police, Chief Superintendent Paul Magee, ist ein alter Freund von mir, den ich seit dreißig Jahren kenne. Damals hat ihn die IRA nachts wach gehalten. Jetzt ist es eine andere Sorte Terroristen.
Sein Gesicht ist schmal und glatt rasiert. Er wirkt beinahe jugendlich, trotz seiner grauen Haare, die mir weißer vorkommen denn je. Bald geht er als blond durch.
»Du siehst beschissen aus, Vincent.«
»Das sagen mir die Leute andauernd.«
»Wie ich höre, wirst du wieder geschieden. Was ist passiert?«
»Ich habe vergessen, Zucker in ihren Tee zu tun.«
Er lacht. Paul ist verheiratet mit einem Mädchen, das er auf dem Gymnasium kennen gelernt hat. Shirley ist auch wirklich eine Frau zum Behalten. Sie wiederum schätzt meinen Einfluss auf Paul gar nicht, hat mich aber trotzdem gebeten, Patenonkel ihres ältesten Sohnes zu werden.
Wir sitzen in Pauls Büro mit Blick auf die Wellington-Kaserne. Er kann jeden Morgen zusehen, wie die Wachablösung aus dem Tor heraus und den Birdcage Walk zum Buckingham Palace heruntermarschiert. Rachel bleibt im Hintergrund und wartet, bis sie vorgestellt wird. Der Name sagt ihm nichts. Ich sage ihm, dass wir ein Überwachungsvideo von vor drei Jahren sehen wollen.
»So lange bewahren wir sie nicht auf.«
»Dieses schon. Ich habe dich darum gebeten.«
Plötzlich zählt er zwei und zwei zusammen und sieht Rachel wieder an. Ohne ein weiteres Wort führt er uns aus seinem Büro den Flur hinunter, tippt Sicherheitscodes in Konsolen und begibt sich mit uns tief in das Gebäude hinein.
Irgendwann sitzen wir in einem kleinen Raum und warten, während ein Video zurückspult. Rachel sieht reglos zu, sie scheint sogar den Atem anzuhalten. Körnige Schwarzweißbilder flackern über den Bildschirm. Sie zeigen eine Gestalt am Fuße der Rolltreppe in der U-Bahn-Station Leicester Square. Vermutlich ist es ein Mädchen. Sie hat einen dunkelblauen Trainingsanzug an und trägt etwas unter dem Arm. Es könnte ein Badelaken sein. Es könnte alles Mögliche sein.
In dem U-Bahnhof sind zwölf Kameras angebracht, jeweils über Bahnsteigen und Rolltreppen. Aber sie waren im falschen Winkel
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