Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost
gerade lange genug nach Hause, um zu duschen und frische Kleidung anzuziehen. Daj saß am Küchentisch und schnarchte, den Kopf zwischen den Armen, die siamesische Katze zusammengerollt auf dem Schoß. Zwischen ihren Fingern klemmte ein Glas Wodka. Der erste Drink
des Tages war für sie immer eine Erleuchtung, sagte sie, der Saft im Fluge kopulierender Engel. Gin war zu englisch und Whisky zu schottisch, von Port wurden ihre Zähne und ihr Zahnfleisch dunkelrot. Und wenn sie sich übergab, sah es aus, als hätten Spatzen schwarze Johannisbeeren ausgeschissen.
Je älter Daj wurde, und je mehr sie trank, desto mehr wurde sie wieder zu einer Zigeunerin. Sie verwandelte sich in einen Typ zurück und wickelte sich in Erinnerungsschichten ein wie in die Schichten ihrer Unterröcke. Sie trank, um zu vergessen und den Schmerz abzutöten. Sie trank, weil ihre Dämonen durstig waren.
Ich musste ihr das Glas mit Gewalt entwinden, bevor ich sie ins Bett tragen konnte. Die siamesische Katze schlüpfte von ihrem Schoß und breitete sich wie eine Flüssigkeit auf dem Boden aus. Als ich Daj die Bettdecke überzog, schlug sie die Augen auf.
»Du wirst sie doch finden, Yanko?«, lallte sie. »Du wirst das kleine Mädchen finden. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu verlieren. «
»Ich tue mein Bestes.«
»Ich kann alle verlorenen Kinder sehen.«
»Ich kann sie nicht zurückbringen, Daj.«
»Wenn du die Augen schließt, wirst du sie sehen.«
»Still jetzt. Schlaf.«
»Sie sterben nie«, flüsterte sie und ließ sich von mir auf die Wange küssen. Einen Monat später kam sie ins Altersheim. Sie hat mir nie verziehen, dass ich sie im Stich gelassen habe, aber das ist die geringste meiner Sünden.
Das Krankenhauszimmer ist dunkel. Die Flure sind dunkel. Die Welt draußen ist ebenfalls dunkel, bis auf die Laternen, deren Licht auf die Autos mit ihrem eisigen weißen Pelz fällt.
Ali schläft auf einem Stuhl neben meinem Bett. Ihr Gesicht wirkt aschfahl, ihr Körper steif. Das einzige Licht kommt von einem flimmernden Fernseher in der Ecke.
Sie öffnet die Augen.
»Sie hätten nach Hause gehen sollen.«
»Hier gibt es Kabel.«
Ich blicke zu dem Fernseher. Es läuft ein alter Schwarzweißfilm – Adel verpflichtet mit Alec Guinness. Die übertriebene Gestik und Mimik sind ohne Ton noch offensichtlicher.
»Wissen Sie, ich bin nicht besessen.«
»Wie meinen Sie das, Sir?«
»Ich versuche nicht, Mickey Carlyle von den Toten zurückzuholen. «
Ali streicht sich eine Strähne aus den Augen. »Warum glauben Sie, dass sie noch lebt?«
»Das kann ich nicht erklären.«
Sie nickt.
»Sie waren sich wegen Howard einmal sicher.«
»Nie ganz.« Ich wünschte, ich könnte es erklären, aber es würde sich anhören, als litt ich unter Zwangsvorstellungen. Manchmal denke ich, es gibt auf der Welt nur einen einzigen Menschen, von dem ich sicher weiß, dass er Mickey nicht entführt hat – und das bin ich selber. Wir haben mehr als achttausend Befragungen durchgeführt und tausendzweihundert Aussagen aufgenommen. Es war eine der größten und teuersten Ermittlungen in einem Entführungsfall in der Geschichte der britischen Polizei, aber wir konnten sie trotzdem nicht finden.
Bis heute stoße ich manchmal an Laternen oder Häuserfassaden auf Plakate von Mickey. Niemand sonst scheint ihr Gesicht zu bemerken und sie wehmütig anzustarren, aber ich kann nicht anders. Manchmal führe ich in dunklen Stunden sogar Gespräche mit ihr, was seltsam ist, weil ich mit meiner eigenen Tochter Claire, als sie so alt war wie Mickey, nie geredet habe. Mit meinem Sohn hatte ich mehr gemeinsam, weil wir uns über Sport unterhalten konnten. Was wusste ich von Ballett und Barbiepuppen?
Ich weiß mehr über Mickey, als ich von Claire wusste. Ich weiß, dass sie Glitzernagellack, Lipgloss mit Erdbeergeschmack und MTV mochte. Sie hatte ein Schatzkästchen mit polierten Kieseln, angemalten Tonperlen und einer Haarklammer, die nicht mit Glassteinchen, sondern mit echten Diamanten verziert war, wie sie jedem erzählt hatte.
Sie hat gern gesungen und getanzt, und ihr Lieblingslied beim Autofahren war »Row, row, row your boat gently down the stream and if you see a crocodile don’t forget to scream.« Das gleiche Lied habe ich Claire immer zur Schlafenszeit vorgesungen und sie dann kichernd durchs Zimmer gejagt, bis sie unter die Decke geschlüpft ist.
Vielleicht ist es Schuld, was ich empfinde, und darüber weiß ich eine Menge. Ich habe mit der Schuld
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