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Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost

Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost

Titel: Amnesie - Robotham, M: Amnesie - Lost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Robotham
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Hals, den ich nicht herunterschlucken kann. »Sie wollen doch bloß in meinen Kopf, stimmt’s? Die Conditio humana – so nennen Sie es doch? Vor dem Viech müssen Sie sich echt in Acht nehmen.«
    »Warum träumen Sie ständig von vermissten Kindern?«
    »Sie können mich mal!«
    »Vielleicht haben Sie Schuldgefühle.«
    Ich antworte nicht.
    »Vielleicht haben Sie es verdrängt.«
    »Ich verdränge nichts.«
    »Haben Sie Ihren leiblichen Vater je kennen gelernt?«
    »Wenn Ihr Kiefer mit einem Draht verklammert ist, werden Sie Mühe haben, Fragen zu stellen.«
    »Viele Menschen kennen ihre Väter nicht. Sie müssen sich doch fragen, wie er ist und ob Sie aussehen oder klingen wie er.«
    »Sie irren sich. Es ist mir egal.«
    »Wenn es Ihnen egal ist, warum wollen Sie dann nicht darüber reden? Sie waren wahrscheinlich ein Kriegsbaby – geboren kurz nach Kriegsende. Viele Väter sind nicht nach Hause gekommen. Andere waren im Ausland stationiert. Kinder wurden vermisst…«
    Ich hasse das Wort »vermisst«. Mein Vater wurde nicht vermisst. Er liegt nicht unter irgendeinem Fleckchen französischer Erde, das für immer englisch sein wird. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.

    Joe wartet immer noch. Er sitzt da, dreht seinen Stift in den Händen und wartet auf Godot. Ich will nicht analysiert werden und meine Vergangenheit ausleuchten lassen. Ich will nicht über meine Kindheit reden.
    Ich war vierzehn, als mich meine Mutter über meine Herkunft aufgeklärt hat. Sie war natürlich betrunken, lag zusammengerollt am Fußende meines Bettes und wollte, dass ich ihr die Füße massiere. Sie erzählte die Geschichte von Gemile Purrum, einem Zigeunermädchen mit einem tätowierten »Z« auf dem linken Arm und einem aufgenähten schwarzen Winkel an ihren Lumpen.
    »Wir sahen aus wie Bowlingkugeln mit abstehenden Ohren und furchtsamen Augen«, sagte sie und nippte an der Flasche zwischen ihren Brüsten.
    Die hübschesten und kräftigsten Zigeunermädchen wurden in die Häuser der SS-Offiziere geschickt. Die nächste Gruppe wurde für die Lagerbordelle verwendet, so lange vergewaltigt, bis man sie gebrochen hatte, und häufig sterilisiert, weil die Roma als unsauber galten.
    Meine Mutter war fünfzehn, als sie nach Ravensbrück kam, das größte Frauenkonzentrationslager im Reich. Sie wurde ins Lagerbordell abkommandiert und musste zwölf Stunden am Tag arbeiten.
    Sie ging nicht ins Detail, aber ich weiß, dass sie sich an jeden Einzelnen erinnerte.
    »Ich glaube, ich bin schwanger«, lallte sie.
    »Das ist unmöglich, Daj.«
    »Ich habe meine Tage nicht bekommen.«
    »Bist du beim Arzt gewesen?«
    Sie sah mich böse an. »Erika hat versucht, mich zum Bluten zu bringen.«
    »Wer ist Erika?«
    »Ein jüdischer Engel… aber du hast dich in mir festgeklammert. Du wolltest nicht gehen. Du wolltest unbedingt leben.«

    Bei Kriegsende war sie im dritten Monat. Zwei weitere Monate suchte sie nach ihren Verwandten, aber sie waren alle verschwunden – ihre Zwillingsbrüder, ihre Mutter, ihr Vater, Tanten, Onkel, Cousinen …
    In einem Lager für displaced persons bei Frankfurt riet ihr ein junger Offizier namens Vincent Smith auszuwandern. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien nahmen Flüchtlinge auf, die gültige Papiere und eine Ausbildung hatten. Germile hatte weder noch.
    Weil niemand eine Zigeunerin wollte, log sie in ihrem Antrag und erklärte, sie sei Jüdin. So viele waren gestorben, dass es leicht war, Ausweise auf einen fremden Namen zu bekommen. Aus der sechzehnjährigen Germile Purrum wurde die neunzehnjährige Sophie Eisner, eine Näherin aus Frankfurt – eine neue Identität für ein neues Leben.
    Ich wurde im Bezirkskrankenhaus einer verregneten englischen Stadt geboren, die Verdunklungsvorhänge hingen noch an den Fenstern. Sie ließ mich nicht sterben. Sie sagte nicht: »Wer braucht ein weiteres weißhaariges deutsches Schwein mit kalten blauen Augen?« Und sogar als ich ihre Milch zurückwies und in ihre offene Bluse spuckte (vielleicht ein weiteres Zeichen dafür, dass ich mehr von seinem als von ihrem Blut war), verzieh sie mir.
    Ich weiß nicht, was sie sah, wenn sie mir in die Augen blickte: den Feind vielleicht oder die Soldaten, die sie vergewaltigt hatten. Ich hätte ausgesehen, als gehörte mir die Welt, sagte sie. Als würde die gesamte Schöpfung neu geformt oder geordnet, um mir zu passen.
    Ich weiß nicht, wer ich heute bin. Ich bin weder ein Wunder des Überlebensinstinkts noch eine Missgeburt. Ich

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