Amnion 2: Verbotenes Wissen
Ein allem vorrangiger Wunsch nach Überleben hielt ihn von seinem privaten Abgrund fern. Eben weil sich in seinem Innersten soviel Furcht ballte, hatte er die Fähigkeit, auch noch durchzuhalten, wenn ein weniger geschädigtes oder weniger boshaftes Gemüt längst aufgegeben hätte.
Weil er keine Wahl hatte, konzentrierte er sich darauf, seine neuen Befähigungen zu verstehen und sie sich, so gut es ging, nutzbar zu machen. In gewissem Umfang gehörten die Laser, die erhöhten Körperkräfte, sein Computer und das leistungsgesteigerte Augenlicht allesamt ihm. Er durfte sie innerhalb des engen Spielraums anwenden, die seine Programmierung ihm erlaubte. So wie bei der Strahlenden Schönheit und Morn Hyland wollte er herausfinden, wieviel sie taugten.
Während Hashi Lebwohls Mitarbeiter ihn testeten, testete er selbst sich gleichfalls. Zu guter Letzt stellte er fest, daß tatsächlich als einziges seine Programmierung ihm das Entweichen verwehrte. In jeder sonstigen Hinsicht hätte er ebensogut eigens für den Zweck modifiziert worden sein können, aus dem VMKP-HQ auszubrechen. Die neuen Dimensionen seiner Sicht ermöglichten es ihm, Alarmanlagen und Schlösser zu erkennen und zu analysieren. Mit seinen Lasern konnte er Schaltkreise umändern, Türen aufschneiden oder Wächter töten. Er hatte die Kräfte eines großen Affen und war so schnell wie ein Mikroprozessor. Und sein Computer zeichnete ihm alles auf. Er war ihm sogar nützlicher als ein eidetisches Gedächtnis, weil er ein breites Spektrum voneinander unabhängiger Datenbanken umfaßte, auf die Angus nach und nach, indem seine Programmierer ihrer Macht über ihn immer mehr vertrauten, den Zugriff erhielt.
Wäre er sein eigener Herr gewesen, hätte er sein Gefängnis buchstäblich auseinandergenommen und wäre geflüchtet.
Doch die Z-Implantate verhinderten es. Er mußte warten.
Irgendwann freilich wäre die Last dieser Geduldsprobe selbst für ihn zu groß geworden. Seine Herren standen vor eigenen Anforderungen. Außerhalb der Wände des Chirurgischen Trakts der VMKP-Abteilung Datenakquisition entwickelten die Ereignisse, fernab aller Einwirkungsmöglichkeit, ohne beeinflußbar zu sein, sich ganz in ihrem Tempo.
Eines Morgens – wie der Computer ihn informierte, geschah es um 9 Uhr 11 Minuten 43,17 Sekunden – betrat eine Gruppe Techniker und Ärzte Angus’ Unterkunft. Setzen Sie sich auf die Bettkante, Josua, sagte einer von ihnen.
Er gehorchte, weil er keine Wahl hatte.
Stasis, Josua, sagte jemand anderes.
Unwillkürlich verfiel er in einen der Nullzustände, in die man ihn brachte, bevor man seinen Computer ausschaltete; einen Zustand, indem sein Geist für sich aktiv blieb, sein Körper jedoch zu einem reglosen Fleischklumpen ermattete, der nur noch die selbsttätigen biologischen Vorgänge verrichtete. Solange er in dieser Lage war, hätte man ihm die Fingernägel ausreißen, die Hoden abschneiden oder Nägel ins Gehirn hämmern können, ohne daß er bei allem Entsetzen zu irgend etwas anderem imstande gewesen wäre, als es zur Kenntnis zu nehmen – und es sich zu merken.
Doch hätte man vorgehabt, ihm körperlichen Schaden zuzufügen, wäre es längst geschehen. Während die Ankömmlinge ihm den Labor-Pyjama auszogen und den Rücken mit Antiseptika einrieben, verspürte er zwar Grauen, jedoch nicht angesichts ihrer unbekannten Absichten, sondern aufgrund seiner vollständigen Bewegungsunfähigkeit.
Mit der gewohnten Effizienz brachten sie ihm zwischen den Schulterblättern einen Einschnitt bei, um sich Zugang zu seinem Computer zu verschaffen. Als sie den Data-Nukleus abstöpselten, geriet die Kluft in seinem Bewußtsein, die seine Computer-Schnittstelle repräsentierte, so schwarz und kalt wie die Leere zwischen den Sternen. Jetzt erhielten integrierte Befehle, die Bestandteile des Computers selbst waren, ihn in der Stasis.
Doch schon einige Augenblicke später stöpselten die Mediziner einen neuen Data-Nukleus ein. Sobald der Anschluß zustande kam, hatte Angus das verwirrende, hinterhältige Gefühl, sein Geist wäre neu geladen worden. Ein Teil seines Gehirns hatte in das cyborgische Äquivalent der Tach übergewechselt.
Anschließend befreite man ihn von sämtlichen Anschlüssen, Kabeln und Neurosensoren. Zum erstenmal seit Beginn seiner Unifikation – seiner Cyborgisierung – existierte er getrennt von allen äußeren Apparaturen, gesondert von jedem Zwang und jeder Pflicht, die man nicht in seinem Data-Nukleus gespeichert
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