Amnion 4: Chaos und Ordnung
gegeben wäre, Wunder zu wirken…
»Kapitänin Chatelaine, die Analyse der Schub-Masse-Relation der Posaune, die während ihres Entweichens von Thanatos Minor gemessen werden konnte, erlaubt den Rückschluß, daß ihr Antrieb über ein adäquates Leistungsvermögen verfügt, um sie vom Ereignishorizont der Singularität fernzuhalten. Es ist vorstellbar, daß sie sich vor der Singularität gerettet hat. Tatsächlich muß es als naheliegend angenommen werden, daß an Bord vor Zündung der Singularitätswaffe für die Möglichkeit des Überlebens vorausgeplant worden ist. Das paßt…«
Er stockte, als hätte er ein Übersetzungsproblem. Seine Umgangsfähigkeit mit der menschlichen Sprache, ähnlich wie sein Vermögen, menschliche Gedanken nachzuvollziehen, schwand immer mehr. Doch einen Moment später fand er anscheinend einen Weg, um auf sein vorheriges Ich zurückzugreifen; auf seinen früheren Geist.
»Das paßt«, wiederholte er zögernd, »zu allem, was mir über Kapitän Thermopyle bekannt ist. Um zu leben, würde er jederzeit seine Begleiter und sogar sein Raumschiff opfern.« Taverners Verhalten nach ließ sich nicht ausschließen, daß diese Vorstellung ihm bei seiner jetzigen Mentalität ernstes Unbehagen hervorrief. »Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß die Posaune noch existiert.«
Er sprach in energischerem Tonfall weiter. »Stiller Horizont ist in Position gegangen, um eine Flucht der Posaune aus dem Asteroidenschwarm zu unterbinden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie die Mittel hat, um den Interspatium-Scout zu vernichten. Allerdings steht sie zur Zeit in heftigem Gefecht mit einem VMKP-Kriegsschiff.« Ein zweites Mal schwieg er, um die erhaltenen Angaben richtig verdolmetschen zu können. »Sie würden es als ›Kreuzer der Skalpell-Klasse‹ bezeichnen. Die Anwesenheit dieses Kriegsschiffs verringert die Aussicht, daß Stiller Horizont die Posaune vernichten kann. Wir haben Anweisung, nun den Rand des Asteroidenschwarms anzufliegen und nach dem Interspatium-Scout zu suchen… Und erforderlichenfalls Stiller Horizont zu unterstützen. Mir liegen die entsprechenden Koordinaten vor. Der Preis einer Kaperung der Posaune ist zu hoch. Darum muß sie vernichtet werden.«
Ja! Sorus konnte sich kaum beherrschen. Ja.
Gott sei Dank, daß Taverner sie nicht anschaute. Hätte er sie in diesem Moment angesehen, wären ihm der flüchtige Ausdruck der Wut und diebischen Freude in ihren Augen sowie ihre Miene plötzlicher, hoffnungsfroher Mordlust bestimmt nicht entgangen.
Alles, was sie sich gewünscht hatte, war ihr zugefallen.
»Das ist Ihre Schuld«, maulte sie ihn an, nur um die Fassade zu wahren. »Vergessen Sie das nicht. Hätten Sie nicht verhindert, daß ich sie eliminiere, als ich dazu die Gelegenheit hatte, könnten Sie jetzt längst auf dem Heimflug sein.«
Nun hob Taverner endlich den Blick in ihr Gesicht. Nie zwinkerten seine Alienaugen. »Stiller Horizont ist über die gefallenen Entscheidungen und ihr Ergebnis informiert.«
»Dann ist’s wohl am besten« – Sorus wandte sich ab, weil sie sich sorgte, ihre wahren Empfindungen nicht verheimlichen zu können –, »wir fliegen ab. Steuermann, der Amnioni gibt dir die Koordinaten. Es dürfte nicht leicht sein, dort hinzugelangen, aber du kannst es schaffen. Mit ein bißchen Eigenrotation haben wir genug Manövrierschub, um das Schiff in die entsprechende Richtung zu drehen.«
»Aye, Kapitänin.« Mehrere Sekunden lang tippte der Steuermann Tasten. Dann winkte er Taverner an die Steueranlagen-Kontrollkonsole, damit der Halb-Amnioni die Koordinaten eingab.
Taverner zögerte nicht. Anscheinend empfand er keine Veranlassung, um widerspenstig gegen Sorus zu sein. Er ließ von ihrem Kommandopult ab und schwebte hinüber zum G-Andrucksessel des Steuermanns.
Hinter seinem Rücken erwiderte Sorus den Blick der Scanning-Hauptoperatorin. Für einen kurzen Moment grinsten die beiden Frauen sich an wie Spießgesellinnen.
DAVIES
Als er aus dem Dunkel der Atemnot und Beschleunigung zurückkehrte, wunderte es ihn, daß er noch lebte.
Wie blöde. Ständig wunderte er sich darüber, noch am Leben zu sein. Was war nur mit ihm los? Lernte er denn gar nichts dazu? Zu staunen änderte gar nichts, half nicht im mindesten. Allein Fakten gaben den Ausschlag.
Die G-Belastung war von ihm gewichen; zwar schmerzte jeder Knochen und jede Sehne seines Körpers, aber er weilte noch unter den Lebenden.
Nein, die G-Belastung war nicht vorüber.
Weitere Kostenlose Bücher