Amnion 4: Chaos und Ordnung
Allemal wog er mehr als sein normales Gewicht. Der Pulsschlag schien seine Venen zu zerschrammen und zu zerstechen, als ob Glassplitter durch seinen Blutstrom schwämmen. Aus Schwäche blieb er im Andrucksessel liegen; infolge seiner Ausgelaugtheit spürte er sämtliche Beschwerden um so stärker. Er fühlte sich, als hätte jemand ihm durch die Sitzpolsterung spitze Eisenstangen in die Arme und zwischen die Rippen gestoßen. Er war sich nicht sicher, ob er den Kopf heben oder wenigstens schlucken konnte. Nur die Augen zu öffnen kostete ihn schon die ärgste Mühe.
Auf den ersten Blick ergab das, was er sah, keinerlei Sinn. Durch eine Art von Migräne der Dehydration und Phosphene erkannte er die Brücke. Zumindest in dieser Beziehung war er sich völlig sicher. Und der Dekompressionsalarm schwieg. Solange Davies nicht zu tief einzuatmen versuchte, bekam er Luft. In immerhin diesem Umfang war die Posaune intakt.
Doch die Scanningdisplays vor seinen Augen deuteten allem Anschein nach darauf hin, daß sie sich nicht mehr fortbewegte. Die Schubdaten behaupteten, es sei der Fall; auch das gedämpfte Rumoren des Antriebsgeräuschs durch den Rumpf sprach dafür; ebenso die spürbare G-Belastung. Nach den angezeigten Informationen der Scanning-Kontrollkonsole traf jedoch das Gegenteil zu.
Die Monitoren waren groß genug, so daß Davies sie sehen konnte, aber seine Augen weigerten sich, irgend etwas Kleineres zu erkennen: sie nahmen weder die Indikatoren der Kommandokonsole wahr noch die Daten auf den Sichtschirmen. Lediglich den Kopf zu senken, um sie genauer zu betrachten, schmerzte viel zu stark. Davies hatte keine Ahnung von der aktuellen Lage.
Rings um ihn flüsterte eine Art von Respiration, als ob die Skrubber der Luftfilteranlagen leise stöhnten. Auch das ergab keinen Sinn. Noch nie hatte er von Skrubbern solche Töne gehört. Wenn sich die Filter verstopften, hörte man ab und zu ein leises, jämmerliches Rasseln, ähnlich wie aus der Brust eines Asthmatikers; nie jedoch so ein ersticktes Japsen nach Luft.
Er mußte den Kopf drehen; es mußte ihm gelingen.
Der Schmerz, den es ihm bereitete, den Kopf vorzubeugen, trieb ihm Tränen in die Augen. Aber das half ihm weiter: nachdem er die Nässe fortgeblinzelt hatte, konnte er deutlicher sehen.
Die Anzeigen beantworteten seine erste Frage. Der Autopilot flog die Posaune, aber Sicherheitsschaltungen hatten ihn korrekturgesteuert. Voraus schwebte zuviel Asteroidengestein: der durch Morn vorprogrammierte Kurs hätte das Ende des Raumschiffs zur Folge gehabt. Zu seinem Schutz hatten die Automatiken es quasi stationär im Asteroidenschwarm geparkt, manövrierten es nur zur einen oder anderen Seite, sobald eine Kollision drohte.
Aber die Posaune befand sich noch im Schwerkraftbereich des Schwarzen Lochs. Unablässig tastete die Singularität mit unersättlicher Gefräßigkeit nach ihr, versuchte sie zurückzuholen, wieder anzuziehen. Sie hätte keine Gegenwehr, setzte sie keinen Schub ein, um der gebieterischen Anziehungskraft der Gravitationsquelle entgegenzuwirken. Zum Glück leisteten die automatischen Sicherheitsschaltungen diesen Widerstand.
Gott sei Dank hatte Morn daran gedacht, sie zu aktivieren, ehe sie die Besinnung verlor.
Wo war der Interspatium-Scout? Wo in Relation zur Sturmvogel und dem dritten Raumer? Zur Singularität und zum Asteroidenschwarm? Davies durchforschte die Scanningdaten nach Aufschlüssen.
Nirgends war ein Zeichen der Sturmvogel oder irgend eines anderen Schiffs zu erkennen: das mußte man als vorteilhaft einsrufen. Und das Schwarze Loch war genau dort. Aber… Davies sperrte die Augen auf, ein Stich fuhr ihm durchs Herz, als er sah, daß die Posaune, seit er bewußtlos geworden war, kaum fünf Kilometer zurückgelegt hatte. Kaum fünf Klicks! Kein Wunder, daß sie noch gegen die Anziehung des Schwarzen Lochs ankämpfen mußte.
An dieser Position gab die Posaune ein leichtes Opfer ab.
Nach den Auskünften des Scanningcomputers ließen sich in Reichweite der Instrumente keine weiteren Raumschiffe orten. Allerdings würden bald welche da sein, dachte Davies – langsam und mühevoll, weil verkehrte Neurotransmitter sein geistiges Leistungsvermögen beeinträchtigten –, wenn der Interspatium-Scout nicht schleunigst Fahrt aufnahm.
Aber vielleicht brauchten sie sich wegen anderer Raumschiffe keine Sorgen mehr zu machen. Eventuell verkörperte der Ereignishorizont des Schwarzen Lochs die einzige verbliebene, wirkliche Gefahr. In dem
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