Amnion 4: Chaos und Ordnung
herabhängen und heil sein.
Während die Posaune sich gegen die Anziehungskraft der Singularität stemmte, mußte Morn den Arm über den Sesselrand geschoben haben, bis der Andruck, der die Flucht des Interspatium-Scouts begleitete, ihn erfaßt, ihn beinahe abgerissen hatte…
So schlagartig, als vollführte er eine geistige Hyperspatium-Durchquerung, wurde Davies Hyland zu einem anderen Menschen. Endokrine Extreme transformierten ihn binnen eines Augenblicks. Noradrenaline unterdrückten den Schmerz; Dopamine und Serotonin bewirkten, daß er das Gewicht nicht mehr spürte. Er vergeudete keine Zeit damit, Morns Namen zu rufen oder in Panik zu geraten. Statt dessen öffnete er mit einem Fausthieb die Gurte und schwang sich aus dem G-Andrucksessel.
Noch immer war er um die Hälfte zu schwer. Unter besseren Umständen wäre er mit seiner effektiven Masse mühelos zurechtgekommen, wenn auch nicht leicht. Jetzt jedoch glaubte er zu spüren, wie seine Rippen aufeinanderschabten. Aber er mißachtete die zusätzlichen Kilo, als wären sie nicht vorhanden. Seine Stiefel knallten wuchtig aufs Deck, aber weder fühlte er das Stechen in den Fußsohlen noch den Ruck in den Knien.
Dank ihrer Kardanaufhängung rotierte die Brücke der Posaune bei hoher G-Belastung die G-Andrucksessel je nach den Andruckverhältnissen, um die Brückencrew optimal zu schützen. Mittlerweile hätte das Schiff allerdings eine stabile Fluglage angenommen. Das Deck unter Davies’ Füßen bildete eine ebene Fläche.
Zwei Schritte genügten, um die Kommandokonsole zu erreichen. Sobald Morn aufwachte, mußte sie gräßliche Schmerzen haben. Schon der Anblick ihres verrenkten Arms rief bei Davies ein Ziehen in den Gelenken hervor. Was konnte er tun, um ihr zu helfen? Er war kein Medi-Tech. Konnte er es wagen, sie aus dem Sitz fortzubefördern?
Ja. Das war aussichtsreicher, als sie in dieser Verfassung zu belassen.
Schnell, aber behutsam hob er Morns Arm an und schob sie in die Mitte der Rücklehne.
Ein Stöhnen erstickte im Blut auf ihren Lippen. Ihre Lidern hörten zu flattern auf: statt dessen verkniff sie jetzt die Augen, als hätte sie einen Schwindelanfall. Ein mattes Husten sprühte Blut auf ihr Kinn. Danach öffnete sie ganz allmählich die Augen.
»Morn«, raunte Davies furchtsam. »Morn? Kannst du mich hören?«
Ging er richtig vor?
Sein Gespür sagte ihm, daß sie sich diese Verletzungen absichtlich beigebracht hatte, wohl aufgrund der Überlegung, daß die Schmerzen dem Hyperspatium-Syndrom eventuell keinen Raum zur Entfaltung ließen. Und daß sie, selbst wenn es sie seiner Gewalt unterwarf, in verletzter Verfassung nicht gehorchen konnte.
Sie heftete den Blick in Davies’ Gesicht. Ihr Mund formte ein Wort, obwohl Davies keinen Laut hörte.
Wollte sie seinen Namen nennen? Nein. Als sie es ein zweites Mal versuchte, fand sie genug Atem, um verständlich zu sein.
»Angus…«
Fast hätte Davies aufgeschrien. Verwechselte sie ihn mit seinem Vater? Hatte sie an niemandem Interesse außer ausgerechnet Angus?
Dann kam ihm eine erschreckendere Einsicht.
Angus! Er hatte auch Angus vergessen, beide Elternteile waren von ihm glattweg vergessen worden, obwohl sie ihm vorhin das Leben gerettet hatten.
Angus war zuletzt außerhalb des Raumschiffs gewesen; er hatte die tragbare Materiekanone benutzt, um die Singularitätsgranate zu zünden. Das Schwarze Loch mußte ihn aufgesaugt, ihn vom Rumpf der Posaune fortgerissen haben, als wäre er nur ein Steinchen gewesen. Nicht einmal ein Cyborg hatte genügend Kräfte, um sich der Anziehungskraft einer Singularität zu widersetzen.
Doch Davies hatte Röcheln aus mehr als nur einer Brust gehört. Hastig senkte er das Gesicht an den Interkom-Apparat der Kommandokonsole, legte das Ohr an den Lautsprecher.
Als er sich vorbeugte, fuhren schmerzhafte Stiche zwischen seine Rippen.
Leise wie das Gewisper von Statik im Vakuum: Atemzüge. Aus Angus’ Helmfunk drang das leise, hohle Seufzen mühevollen Schnaufens, ein und aus die Luft, ein und aus…
Ruckartig hob Davies den Kopf. »Er lebt. Morn, er lebt. Er ist noch draußen.« Irgendwo mußte Angus sich festgemacht, seinen Nullschwerkraftgurt eingehakt haben. »Aber ich höre ihn.«
In Morns Wangen zuckten Muskeln: vielleicht versuchte sie zu lächeln. »Um so besser«, sagte sie kaum vernehmlich. »Noch einmal bringe ich so was nicht über mich.«
»Morn?« Davies blickte ihr aus unmittelbarer Nähe ins Gesicht, darum bemüht, keine ihrer
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