Amnion 4: Chaos und Ordnung
hätte sie ihm nicht das Kommando lassen dürfen.
»Funken Sie sie vorerst nicht an«, befahl sie. »Beschränken Sie sich aufs Lauschen. Ich bin gleich auf der Brücke.«
Heftig schaltete sie das Interkom-Gerät ab.
Gottverdammt-verdammt-verdammt, sie brauchte Zeit. Zeit zum Ausruhen; Zeit zum Begreifen der von Warden Dios erhaltenen Anweisungen; Zeit zu einem Zwiegespräch mit Dolph, damit er verstand, um was es ging. Aber die Rächer hatte bereits hier draußen Raumschiffe geortet, wo man im allgemeinen keinen begegnete. Eben darum war Angus darauf programmiert worden, die Posaune eigenverantwortlich in diese Region zu fliegen, falls irgendeine Verräterei Milos Taverners den Interncomputer Josuas dazu bewog, die Prioritätscodes zu wechseln. In diesen Abschnitt des Asteroidengürtels wagten sich freiwillig nicht einmal die hirnlosesten illegalen Prospektoren; hier war der Bannkosmos zu nah, mußte man Scherereien befürchten.
Die Wahrscheinlichkeit, daß die beiden Raumschiffe sich aus purem Zufall hier aufhielten, konnte man bestenfalls in negativen Zahlen ausdrücken.
Weil sie ein Mindestmaß an Disziplin brauchte, zwang sich Min, die Toilette aufzusuchen und das Gesicht zu waschen, ehe sie ihre Kabine verließ; und den Weg zur Konnexblende des Kommandomoduls zu Fuß zurückzulegen.
Unterwegs hatten ihre Füße und auch die Ohren den Eindruck, daß sich die Drallverschiebung der Rächer verschlimmerte. Die Wahrnehmung wirkte wie leichtes Schwindeln auf sie; da sie jedoch dagegen nichts unternehmen konnte, beschloß sie sich anzugewöhnen, sie zu ignorieren.
Als Min die Brücke betrat, sah sie sofort, daß sich von dem runden Dutzend Leute, die sich vor vier Stunden dort aufgehalten hatten, nur Kapitän Ubikwe selbst sich noch an seinem Platz befand. Die Techniker waren fort, ebenso die Mitglieder der Schicht, die Dienst gehabt hatte, als Min an Bord gegangen war; an den übrigen Brückenplätzen saßen andere Männer und Frauen. Folglich hätte Dolph jetzt gleichfalls dienstfrei haben müssen.
Daß er eine Pause benötigte, war offensichtlich. Das Fleisch schien ihm richtiggehend schlaff um die Knochen zu hängen, als schmölze er im G-Andrucksessel; Übermüdung verlieh seinen Augen einen abweisenden Ausdruck. Durch den Schweißglanz seiner Haut wirkte er regelrecht krank.
Nun erlaubte Min es sich, ihn zu rügen. »Kapitän, haben Sie noch nichts von Schichtwechsel gehört?« schnauzte sie. Die Tatsache, daß sie geradeso wie er gehandelt hätte, hielt sie nicht zurück. »Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, Sie sind genauso ein Mensch wie Ihre Crew. Haben Sie nicht wenigstens einen zur Schiffsführung befähigten Offizier, dem man zumuten kann, ein paar einfache Befehle zu befolgen?« Ubikwe warf ihr einen unleidlichen Blick zu und bleckte die Zähne, so daß sein Gaumen sich rosa von den dunklen Lippen abhob. »Bei allem Respekt, Direktorin« – er antwortete mit der Lautstärke von mühsam gedämpften Trompetenstößen –, »ich glaube, Sie lesen wirklich keine Berichte. Hätten Sie’s getan, wüßten Sie nämlich, daß mein Erster Offizier zu unseren Verlusten zählt. Und meine Zweite Offizierin hat fast den ganzen linken Arm verloren. Als man uns den Rumpf zerschossen hat, ist sie damit in eine Vakuumversiegelung geraten. Sie ist in ihrer Kabine und aus medizinischen Gründen bettlägrig. Zum Glück nimmt Hargin Stoval, der Dritte Offizier, es mit dem ›Schichtwechsel‹ so ernst wie ich. Wir beide versuchen zu vermeiden, daß wir Offiziere zum Brückendienst einsetzen müssen, die noch müder als wir sind.«
Min blieb stehen, als wäre ihre Reue eine Mauer vor der Nase. Allein Entschlossenheit und gute Schulung hielten die Verstimmung aus ihrer Miene fern. Prächtig, Min. Du fühlst dich beschissen, und du läßt es am ersten unschuldigen Menschen aus, der dir in die Quere kommt. Und dann auch noch mit dem verkehrten Vorwand. Mach nur weiter so. Vielleicht kriegst du zum Schluß so eine blöde Belobigung.
»Ich entschuldige mich, Kapitän«, sagte sie laut und deutlich. »Ich kenne Ihren Bericht und habe Ihnen trotzdem kein neues Personal zugeteilt. Ich bin davon ausgegangen, daß Sie lieber mit Ihnen schon bekannten Leuten zusammenarbeiten möchten.«
Fast unverzüglich entkrampfte sich Dolph; es fehlte ihm an Kraft, um wütend zu bleiben. Er schien im Sitz noch tiefer zusammenzusinken. »Völlig zu Recht«, brummte er. »Ich wollte keine neuen Offiziere. Jetzt sind der
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