Amnion 5: Heute sterben alle Götter
Neigung zum Erröten ließ sich noch erkennen.
Warden Dios saß am Schreibtisch, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt, die Handflächen flach ausgestreckt. Sein normales Auge glitzerte durchdringend, als wollte es mit der Infrarot-Funktion seiner unter der Augenklappe versteckten Prothese gleichziehen. Dios war kein besonders großer Mann, doch die Bulligkeit seines Körperbaus und die Festigkeit seiner Haltung erweckten den Eindruck, als wäre er aus Stein gemeißelt; unnahbar wie ein Standbild.
Flink wieselte Hashi Lebwohl in den Konferenzraum, entschuldigte sich nach allen Seiten, schenkte indessen dem eigenen Geplapper keine Beachtung. Die Tür schloß sich hinter ihm; er hörte die Riegel mit metallischem Knacken einrasten, das nach Endgültigkeit klang. Das Geräusch bereitete ihm das unangenehme Gefühl, im Reich der letzten Fragen angekommen zu sein. Kurz vor Warden Dios’ Schreibtischkante blieb er stehen, sah sich nach einem Stuhl um. Allerdings maßte er sich nicht an, Platz zu nehmen, bevor Warden Dios ihm mit einem schroffen Wink dazu die Einwilligung erteilte.
»Entschuldigen Sie sich nicht, Hashi«, sagte Dios grob. »Erklären Sie uns Ihre Verspätung. Nennen Sie mir einen Grund, weshalb wir hier zehn Minuten lang Däumchen drehen mußten, als hätten wir nichts wichtigeres zu tun.«
Warden Dios hatte, bemerkte Hashi Lebwohl, keine gute Laune.
Mit Mühe bezwang Hashi seinen Hang zu Ausflüchten. »Lane Harbinger untersucht derzeit die Überreste des Kaze.« Die Brille war ihm zu tief auf die Nasenspitze hinabgerutscht, um ihn vor Warden Dios’ scharfem Blick zu bewahren; aber er schob sie sich nicht hinauf. »Ich habe so lang auf ihre Ergebnisse gewartet, wie ich konnte… Bis ich von Ihnen herbeordert worden bin. Dann habe ich mir nur noch soviel Zeit genommen, um mir einen vorläufigen Bericht erstatten zu lassen.« Aus Rücksicht auf seine Würde schwieg sich Hashi darüber aus, ob Lane Harbingers Erkenntnisse es gelohnt hatten, sie sich anzuhören – oder auf sie zu warten.
Warden Dios musterte Hashi Lebwohl, während er seine Begründung nannte, und nickte dann knapp. »Na schön. Wir stecken in einer Krise, der schlimmsten Krise, die wir je erlebt haben. Aber die Tatsache, daß wir zehn Minuten Zeit vergeuden mußten, erhöht wahrscheinlich nicht die Größe der Gefahr.«
Hashi zwinkerte eulenhaft. Erachtete Warden Dios die Kaze-Attacke Imposs’ alias Alts als Inbegriff ›der schlimmsten Krise‹, die sie ›je erlebt‹ hatten? Ausgeschlossen. Er konnte doch unmöglich derartig den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. In dem Anschlag weniger als einen ernsten Notfall zu sehen, wäre dumm: ihn übertrieben einzustufen, reine Verrücktheit.
»Sie glauben, wir sind hier, um über den Vorfall auf Suka Bator zu diskutieren«, schnarrte Warden Dios hinzu. »Und der eine oder andere von Ihnen« – Hashi hatte das Empfinden, daß der Polizeipräsident sich kurz auf ihn konzentrierte – »wundert sich vielleicht, daß es so lange gedauert hat, bis ich Sie zu mir rufe. Ja, wir werden über die Angelegenheit auf Suka Bator sprechen. Ich will erfahren, was passiert ist. Und noch dringender möchte ich wissen, was es zu bedeuten hat. Aber dieser Anschlag auf das Erd- und Kosmos-Regierungskonzil ist nur ein Aspekt unseres Desasters. Bevor wir mit der Aussprache anfangen, muß ich Ihnen mitteilen, was sich inzwischen außerdem ereignet hat. Dann werden Sie verstehen, wieso ich Sie nicht sofort hergerufen habe.«
Was sich inzwischen außerdem ereignet hat. Trotz Dios’ grimmigem Ton konnte Hashi Lebwohl erleichtert lächeln. Nach einigen Augenblicken der Besorgnis war er jetzt plötzlich sicher, daß der VMKP-Polizeipräsident das Vertrauen verdiente, das Hashi für ihn erübrigte.
»Klipp und klar gesagt«, verkündete Warden Dios, als wäre er voller Bitterkeit, die er weder unterdrücken noch abreagieren konnte, »verhält es sich wie folgt. Wir befinden uns praktisch im Kriegszustand.«
Sicherheitschef Mandich erstarrte. Er tat, vielleicht ohne es selbst zu merken, einen Schritt auf den Schreibtisch des Polizeipräsidenten zu. Seine rauhen Gesichtszüge wurden so hart wie Warden Dios’ Miene. Die Lippen leicht geöffnet, beugte sich Koina Hannish vor. Erschrecken und Furcht verschleierten ihren Blick, das genetisch bedingte, wesenseigene Grauen eines Menschen vor den Amnion.
Krieg? Hashi Lebwohls Herz setzte für einen Schlag aus, dann fing es in seinem Brustkorb zu flattern
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