Amnion 5: Heute sterben alle Götter
nach. Es war nicht auszuschließen, daß sie am Rande der Tränen war. »Schau dir sein EEG an.«
Nun sah Davies es.
Noch vor wenigen Momenten war auf diesem Monitor außer der undifferenzierten Emission von Angus’ Zonenimplantaten überhaupt nichts erkennbar gewesen. Die Sensoren hatten das Weiße Rauschen nicht durchdringen, keine neuralen Aktivitäten registrieren können. Inzwischen jedoch zog sich eine ganze Anzahl anscheinend normaler Wellen und Kurven durch das Meßspektrum des EEG.
»Er schläft«, erklärte Vector, ehe Davies dazu kam, hinsichtlich der Bedeutung dieser Daten Rückschlüsse zu ziehen. »Das sind keine Nullwerte, er ist nicht mehr in Stasis. Er schläft jetzt.« Sein Blick streifte eine Anzeige. »Von natürlichem Schlaf kann man nicht unbedingt sprechen. Diese Linien…« – er wies auf einige der Messungen – »sind zu gleichmäßig. Die Zonenimplantate haben seinen Schlaf bewirkt. Aber er ist nicht mehr in Stasis.« Darauf beharrte Vector offenkundig. »Seine Hirnfunktionen sind wieder meßbar. Wahrscheinlich erwacht er, sobald das Diagnoseprogramm ihn für bereit hält.« Der Genetiker grinste Davies und Mikka zu. »Nun dürfen wir wohl neue Hoffnung schöpfen.«
Unversehens überwältigte ein so umwerfend starkes Gefühl tiefer Erleichterung Davies, daß er sich vorbeugte, als erlitte er einen Anfall. Mikka krächzte seinen Namen, doch er blieb unfähig zum Antworten. Beschwerden, die er nicht hätte beschreiben können, krampften ihm in Brustkorb und Unterleib die Muskeln zusammen, verkrümmten ihn zu einer fötalen Haltung. Zu lange war er zu hohem Streß unterworfen gewesen, durch nichts als Adrenalin auf den Beinen geblieben. Fleisch hatte Grenzen, selbst sein hochgetörnter Stoffwechsel kannte Schranken, und sie waren schon seit längerem überschritten. Aufgeschreckt infolge des plötzlichen Wechselns in der Stimulierung seiner Neurotransmitter, reagierten seine Nerven geschockt, mit dem Äquivalent geballter Fehlzündungen, verursachten ein konvulsivisches Zusammenkrümmen seines Körpers. Weil er sich in Nullschwerkraft aufhielt, trieb er gegen die Wand und prallte ab, als hätte er jede Masse verloren, alle Substanz.
»Davies!« Mikka packte ihn am Arm, stoppte die Bewegung, der er hilflos ausgeliefert blieb. »Was ist dir? Was ist denn los?«
Wäre es Davies möglich gewesen, die Kehle zu lockern, hätte er Morns Namen gerufen. Aber er vermochte kein Wort auszustoßen; nicht einmal zu atmen…
Dieses Mal kannte Vector kein Zögern. »Ich gebe ihm Kat.« Er tippte der Bordapotheke Befehle ein.
Nein! wollte Davies widersprechen. Keine Medikamente, kein Kat, nichts davon, das ist es nicht, was ich brauche, ihr habt keinen Grund, um euch vor mir zu fürchten, so steht es mit mir nicht. Morn war es, die Kat benötigte. Um ihr Hyperspatium-Syndrom unter Kontrolle zu bringen. Damit sie sie nicht alle in den Tod stürzte. Während er in Schmerz eingeschlossen war wie in einer Gebärmutter, vollzog sich sein Selbstverständnis einer Verschiebung.
Ich bin nicht sie.
Da war der Beweis. Wenn das Universum zu Morn sprach – Hoch-G-Belastung ihren Leib über das erträgliche Maß hinaus marterte –, unternahm sie einen Selbstvernichtungsversuch. Oder sie malträtierte sich auf andere Weise, um sich des Zerstörungsdrangs zu erwehren. Er jedoch neigte zu einer gegensätzlichen Reaktion. Aus ihm wurde eine gänzlich andere Art von Mörder. Getrieben durch sein Grausen vor den Amnion und ihrer Bestrebung, ihn als Waffe gegen seine gesamte eigene Spezies zu benutzen, schickte er Mitmenschen in den Tod. Er lechzte nicht nach Freitod, sondern nach Mord. Und wenn er seinen Körper überforderte, verwandelte er sich nicht in ein Universum der Klarheit, sondern der Pein: stand ihm so vollkommen wehrlos gegenüber wie ein Epileptiker seinen Anfällen.
Er hatte herausgefunden, wie er Angus aus der Stasis holen konnte.
Und er war nicht Morn.
Diese Erkenntnis, so hatte es den Anschein, erreichte bei ihm inwendige Tiefen, an die noch nie irgend etwas gerührt hatte. Sein, nicht irgend jemandes Leid verkrampfte ihm die Muskulatur und beengte die Lungen; der Ursprung war seine Unfähigkeit, zwischen sich und Morn einen Unterschied zu erkennen.
Er hatte Angus gerettet.
Er wollte kein beschissenes Kat.
Bevor Vector sich mit dem Injektor nähern konnte, löste sich der Krampf in Davies’ Brustkasten und Gliedmaßen.
»Vector, er regt sich«, sagte Mikka, als ob der Genetiker es nicht
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