Amok: Thriller (German Edition)
für die Rückruffunktion, doch sie wusste, dass es sinnlos war. Die Nummer des Anrufers ist uns nicht bekannt.
Sie saß auf der Bettkante und starrte auf den Teppich, und sie fragte sich, ob es wirklich sein konnte, dass sie eine psychisch labile Frau zum Selbstmord getrieben hatte.
Craig war als Erster auf den Beinen, gegen acht Uhr. Seit dem Massaker hatte er Probleme, richtig auszuschlafen, besonders samstags. Und nach dem harten Verhör durch die Polizei am Abend zuvor hatte er die halbe Nacht wach gelegen und zwischen seinen vielen konkurrierenden Sorgen zu vermitteln versucht.
Als er sich nach unten schlich, sah er den Umschlag auf der Fußmatte liegen und wusste sofort, dass er nichts Gutes bedeuten konnte. Die reguläre Post wurde erst Stunden später zugestellt.
Es war ein schlichter brauner A4-Umschlag, von Hand eingeworfen, und er trug nur Craigs Namen, gedruckt in einer Standardschrift auf einem Tintenstrahl- oder Laserdrucker. Er nahm ihn mit in die Küche und legte ihn auf die Arbeitsplatte. Dann schloss er leise die Tür und kochte Kaffee. Es war eine fruchtlose Übung im Verleugnen der Realität. Der Umschlag lag da wie ein sprungbereites Raubtier, und Craigs Herz pochte wie ein Dampfhammer beim Gedanken an das, was er enthalten mochte.
Nur die Angst, dass Nina plötzlich hereinkommen könnte, ließ ihn endlich doch danach greifen. Mit zitternden Fingern riss er die Lasche auf und ließ den Inhalt auf den Tisch gleiten.
Es war ein einzelnes Blatt – extra starkes A4-Papier. Text auf der Vorderseite, ein Foto auf der Rückseite. Der Text war in derselben schlichten Schrift gedruckt wie die Adresse, genau in der Mitte der Seite platziert. Er lautete:
Gehen Sie nicht zur Polizei. Wir werden es erfahren.
Das Foto zeigte Tom und Maddie, wie sie mit Nina eine belebte Straße entlangeilten. Im Vordergrund waren parkende Autos zu sehen, im Hintergrund ein niedriges Gebäude, davor ein Maschendrahtzaun.
Nina, wie sie die Kinder von der Schule abholte. Es musste vor kurzem aufgenommen worden sein, wahrscheinlich aus großer Entfernung mit einem Zoomobjektiv. Aber was ihn schwindlig vor Panik machte, war die Tatsache, dass das Foto mit einer Nadel oder vielleicht der Spitze eines Stifts durchstochen worden war, nicht ein Mal, sondern gleich vier Mal.
Vier saubere kleine Löcher – dort, wo die Augen seiner Kinder gewesen waren.
Ein Hustenanfall ließ Julia ins Bad stürzen. Dort spuckte sie wieder Blut ins Waschbecken, das Rot schockierend grell vor dem Weiß des Porzellans. Sie wusste, dass sie es nicht ignorieren konnte, war aber auch nicht gewillt, einen ganzen Tag im Wartezimmer eines Krankenhauses zu vergeuden. Vielleicht, wenn es bis Montag nicht besser würde …
Während sie sich den Mund ausspülte, fiel ihr ein, dass Gordon Jones neben der Adresse auch eine Telefonnummer auf den Zettel geschrieben hatte. Sie rief dort an und fand heraus, dass es die Nummer der anderen Erdgeschosswohnung war. Die Frau, die sich meldete, erklärte, dass es ein Problem mit Alices Telefonanschluss gegeben habe und sie sich bereiterklärt habe, Nachrichten an sie weiterzuleiten.
»Könnten Sie sie an den Apparat holen?«, fragte Julia. »Es ist dringend.«
»Oh, die ist gar nicht zu Hause. Sie ist gestern abgereist. Sieht auch nicht so aus, als würde sie noch mal wiederkommen.«
»Hat sie gesagt, wo sie hinwollte?«
»Kein Wort. Ich weiß es nur, weil der Vermieter gestern Abend hier war. Zu schade, dass sie sich nicht mal verabschiedet hat.« Die Frau schniefte. »Na ja, man soll ja nicht vorschnell urteilen. Die hatte halt schon so ihre Probleme.«
Julia dankte ihr und legte auf. Sie brachte eine ruhelose halbe Stunde damit zu, aufzuräumen und sich Tee und Toast zu machen, von dem sie kaum etwas trank und keinen Bissen aß. Und die ganze Zeit musste sie sich vorstellen, wie Alice gerade in aller Ruhe ihren Selbstmord vorbereitete.
Sie dachte an Alices Warnung, dass die Medien sich auf sie stürzen würden. Hatte sie vielleicht eine Art Abschiedsbrief geschrieben, in dem sie zugab, dass sie den zweiten Täter gesehen hatte?
Die Angst und das schlechte Gewissen schnürten Julia das Herz zusammen. Diese drei kleinen Wildfänge hatten es nicht verdient, ihre Mutter zu verlieren. Aber was konnte sie tun?
Schließlich rang sie sich dazu durch, Craig anzurufen. Sie wählte den Anschluss seines Vaters, dann seine Handynummer, beides ohne Erfolg. Sie würde es bei ihm zu Hause versuchen müssen.
Es
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