Amok: Thriller (German Edition)
ohne echte Nähe und Zärtlichkeit, war der erste Kontakt seiner Lippen mit den ihren wie eine Explosion. Es war wie der erste Sonnenstrahl nach einem ganzen Jahr in einer Kühlkammer. Und es schien ihr etwas wiederzugeben, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie es verloren hatte.
Es war ein perfekter Augenblick. Eine jener allzu seltenen Situationen, in denen er ohne jedes Nachdenken handelte. Er tat einfach, was sein Gefühl ihm sagte.
Ein perfekter Augenblick, und er endete mit einem Telefonanruf: sein Handy, das in seiner Jackentasche zu dudeln anfing.
Sie lösten sich voneinander, beide von der Situation überwältigt und ein wenig verlegen. Craig kramte nach dem Telefon, warf einen Blick auf das Display und spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. Er trat einen Schritt zurück, und Julia, die seine Miene richtig gedeutet hatte, beschäftigte sich rasch mit ihrem Kaffee.
»Nina?«
»Craig, die Polizei ist hier.«
Ihre Worte waren wie ein Schlag, der ihm den Atem raubte. Der Mörder hatte seine Familie ins Visier genommen.
»Ist mit den Kindern alles in Ordnung?«
»Denen geht‘s gut. Ich habe sie von der Schule abgeholt.« Am anderen Ende war ein Rascheln zu hören, und als sie weitersprach, war ihre Stimme leiser, fast ein Flüstern.
»Die Polizei möchte dich zu Abby Clark befragen. Sie wird vermisst.«
»Aber ich habe doch gestern Morgen noch mit ihr gesprochen.«
»Das hat Abbys Freundin ihnen auch gesagt. Sie scheint zu denken, dass Abby in deinem Auftrag an etwas gearbeitet hat.«
Wieder ein Schock, ein noch größerer diesmal. Er sah Julia an und merkte, dass sie ihn anstarrte, offenbar eine Reaktion auf seinen entsetzten Gesichtsausdruck. Er rang immer noch um Fassung, als Nina fragte: »Wo bist du?«
»In Chilton.« Seine Antwort kam zu schnell, eine automatische Lüge. Es war leichter, als ihr die Wahrheit zu erklären.
»Nein, da bist du nicht. Da habe ich zuerst angerufen.« Eine kurze Pause, und dann zischte sie: »Du bist bei ihr, nicht wahr? Bei Julia Trent?«
»Nina, hör zu, das ist nicht -«
»Na, das ging ja schnell, wie? Und das nach all dem, was du mir an den Kopf geworfen hast.«
»Es ist nicht so, wie du denkst.« Er sah wieder Julia an. »Sag den Polizisten, dass ich komme, so schnell ich kann.«
»Was ist passiert?«, fragte Julia. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, dass ihr Kuss unterbrochen worden war.
»Abby wird vermisst. Die Polizei will mich vernehmen.«
»Es gibt vielleicht eine völlig harmlose Erklärung.«
Er sah sie scharf an. »Weißt du noch, was wir vorhin über Zufälle gesagt haben? Und im Übrigen ist Abby Journalistin. Sie ist immer erreichbar. Nein – das hier hat mit mir zu tun, mit dem, worum ich sie gebeten hatte.«
»Das weißt du doch nicht«, sagte sie, doch er wollte sich nicht beschwichtigen lassen.
»Wenn sie glaubt, an einer großen Story dran zu sein, wird sie immer Risiken eingehen. Als sie gestern anrief, war sie ganz aufgeregt. Nicht nur wegen Vilner. Sie hat auch noch jemand anderen erwähnt.« Er kramte in seinem Gedächtnis. »Kendrick, glaube ich.«
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Das wollte sie eben herausfinden.« Wieder schien er sie kaum wahrzunehmen, und sein Blick ging ins Leere.
»Warum hast du Nina angelogen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er grimmig. »Wieder so ein Desaster.« Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er damit auf die Intimität zwischen ihnen anspielen könnte.
Sie begleitete ihn zur Tür, wo er ihr einen flüchtigen, unpersönlichen Kuss auf die Wange gab.
»Sei ganz besonders vorsichtig, ja? Wir können nicht wissen, was er als Nächstes vorhat.«
Sie nickte, und er eilte davon. Während Julia ihm nachsah, war sie plötzlich überzeugt, dass sie ihn nie wiedersehen würde, und die flüchtige Vision des Glücks, die ihr an diesem Nachmittag vergönnt gewesen war, fiel in sich zusammen wie eine Strandburg, erbaut aus trockenem, bröckeligem Sand.
59
Es war eine kalte, sternenklare Nacht. Sie stand unter einem blendend hellen Mond, die weite Kuppel des Weltalls spannte sich über ihr. Sie war wieder am Strand von Camber, aber diesmal war da kein Baum. Kein Mann in Schwarz. Kates Pension stand dunkel und verlassen da.
Sie wandte dem Land den Rücken zu und blickte zum Wasser. Doch da war kein Wasser. So weit sie blicken konnte, nur Sand, Felsen und Seetang. Verlassene Boote lagen schief auf dem
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