Amok: Thriller (German Edition)
erwartet hatte, machte seine Gegenwart sie nicht nervös, und daran merkte sie, dass ihr Bauchgefühl dazu tendierte, ihm zu vertrauen. Dann dachte sie an die andere schreckliche Erkenntnis, die sie über ihn gewonnen hatte, und beschloss, dass sie ihn ebenso gut hier und jetzt darauf ansprechen konnte.
»Du bist insgeheim wütend auf mich, nicht wahr?«, sagte sie. »Es wäre dir lieber gewesen, wenn Carl mich vor dem Dorfladen erschossen hätte.«
Toby kochte vor Wut, als er nach London zurückfuhr, und seine Gefühlslage spiegelte sich in seinem Fahrstil. Er wechselte wild zwischen den Spuren, fuhr dicht auf seine Vordermänner auf und überholte in Streatham eine Schlange, indem er auf die Gegenfahrbahn wechselte und auf der falschen Straßenseite über einen Fußgängerüberweg bretterte. Verfolgt von einem wütenden Hup- und Lichthupenkonzert, raste er davon und war sich bewusst, dass er kurz davor war, etwas zu tun, was er bereuen würde.
Einerseits war ihm klar, wie wichtig es war, sich zu beruhigen und die Nerven zu behalten, andererseits aber hatte er noch nie zuvor mit einem so massiven Vertrauensbruch fertig werden müssen. Er versuchte sich einzureden, dass Vanessa verwirrt war und die Situation irgendwie fehlinterpretiert hatte, aber im Grunde glaubte er nicht daran. Er kannte die Methoden seines Onkels. Ein ums andere Mal hatte George Geschäfte abgeschlossen und niemandem ein Wort gesagt, bis alles unterschrieben war, obwohl Toby als Mitglied des Vorstands Anspruch darauf gehabt hätte, vorab informiert zu werden.
Diese neueste Enthüllung konnte er also nicht einfach ignorieren. George war entschlossen, die Firma vor Tobys Nase zu verkaufen. Ihn seines angestammten Rechts zu berauben.
Das musste er irgendwie verhindern. Er musste eine Möglichkeit finden, sich zur Wehr zu setzen.
Und er würde sie finden.
58
»Es war Sullivan, der mir die Idee zuerst in den Kopf gesetzt hat«, sagte Craig. »Bei unserem ersten Treffen erzählte er mir, dass auf Vater zweimal geschossen worden sei. Er sagte, Carl sei noch einmal zurückgegangen, um … ihm den Rest zu geben.« Er schluckte. »Er hat sich einen Spaß daraus gemacht, mir einzureden, mein Vater habe nur deinetwegen sterben müssen.«
»Das ist wohl auch nicht ganz falsch«, sagte Julia. Sie spürte ein wohlbekanntes Kribbeln in den Augen und drehte ihm den Rücken zu, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Das Wasser kochte, und sie goss den Kaffee auf.
»Ich bin sehr stolz auf ihn«, sagte Craig. »Ich bin stolz, dass er geholfen hat, dir das Leben zu retten. Und obwohl ich weiß, dass es vollkommen irrational ist, ist ein Teil von mir deswegen tatsächlich verbittert. Wärst du nicht über den Dorfplatz geflüchtet, hättest du nicht gerettet werden müssen , dann könnte er heute noch leben. Und damit fertig zu werden ist mir ziemlich schwergefallen.«
»Für mich war es auch nicht gerade einfach«, erinnerte Julia ihn. »Du hast kein Monopol auf Kummer und Leid. Oder auf Bedauern.«
Sie goss sich Kaffee ein und setzte rasch die Kanne ab, um sich die Hand vor den Mund zu halten. Die Tränen rannen ihr über die Wangen, und ihre Schultern zuckten mit jedem stummen Schluchzer. Sie hörte, wie Craig einen Schritt in die Küche tat.
»Es war nie persönlich«, sagte er. »Und nachdem ich dich kennengelernt hatte, war mir sofort klar, wie albern dieser Gedanke war. Mein Vater hat genau das Richtige getan.«
Sie spürte, wie sich seine Finger sanft um ihre Arme legten und sie zu ihm umdrehten. Er hatte Tränen in den Augen, und sein Blick war so traurig, wie sie sich fühlte. Sie räumte ihre letzten Zweifel beiseite und ließ sich in seine Arme sinken. Die Berührung seines Körpers, so stark und so warm, ließ ihr Herz schneller schlagen.
So standen sie lange da, bis sie sich schließlich nur so weit voneinander lösten, dass sie einander in die Augen sehen konnten. Julia merkte, wie ihre Wangen rot wurden, wie die köstliche Hitze ihr nicht nur ins Gesicht stieg, sondern sich durch ihren ganzen Körper ausbreitete. Er legte ihr die Hand in den Nacken, zog sie zu sich heran und führte ihren Mund an seine Lippen, ohne den Blick von ihr zu wenden. In seinen Augen mischten sich feierlicher Ernst, Angst und Verlangen.
Sie hatte immer gedacht, das mit dem Feuerwerk der Gefühle sei ein einziger Unsinn, etwas, was nur in schmalzigen Liebesromanen existierte. Doch nach der langen Zeit des Alleinseins, nach so vielen schwierigen Wochen
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