Amok: Thriller (German Edition)
ganzen Welt. Eine Tragödie war zunächst mal eine Story. Es war nichts Persönliches, das wusste Craig selbst am besten. Er konnte es seinen Kollegen nicht wirklich übelnehmen, wenn sie sich voller Begeisterung auf ein Ereignis stürzten, bei dem möglicherweise sein Vater ums Leben gekommen war.
Zum ersten Mal hatte er sich selbst eingestanden, dass diese Möglichkeit bestand, und er fuhr erschrocken auf, als ihm das klar wurde. Sein Vater war zwar schon über siebzig, aber immer noch fit und aktiv. Nach einer langen juristischen Laufbahn, in der er als Kronanwalt, Bezirksrichter und zum Schluss noch einige Jahre als Attorney General auf der Insel Montserrat tätig gewesen war, hatte er als Pensionär einen neuen Lebensinhalt gefunden, indem er sich leidenschaftlich für den Schutz des Dorfs engagierte, das ihm zur neuen Heimat geworden war. Wenn Abby recht hatte und es dort tatsächlich einen Amoklauf gegeben hatte, dann war es äußerst unwahrscheinlich, dass sein Vater sich versteckt oder aus dem Staub gemacht hatte. Ganz gleich, wie groß die Gefahr war – er hätte es als seine Pflicht angesehen, sich dem Schützen entgegenzustellen.
Craig seufzte. Was hatte es für einen Sinn, gleich das Schlimmste anzunehmen? Er drückte den Ausknopf der Fernbedienung, und der Bildschirm wurde schwarz. In der Stille, die folgte, registrierte er, was er die ganze Zeit schon unterschwellig gehört, aber dem Fernseher zugeschrieben hatte.
Er ließ die Fernbedienung fallen, stand auf und verließ das Zimmer. Schon spürte er, wie sein Atem schneller ging und sein Herz in einem eigenartigen Stakkato schlug. Als er die Haustür öffnete, wurde das Geräusch lauter und unverkennbar. Sirenen.
Er bekam eine Gänsehaut, als er in der Einfahrt stand und lauschte. Die Maidenbower-Siedlung, in der sie wohnten, lag am südöstlichen Ortsrand von Crawley, und ihre Straße war weniger als eine halbe Meile von der Autobahn M23 entfernt. Sirenen gehörten einfach zu ihrer alltäglichen Geräuschkulisse, die sie kaum noch bewusst wahrnahmen, aber so etwas hatte Craig noch nie gehört. Das Geräusch war so intensiv, so unablässig, dass es sich nur um eine ganze Flotte von Fahrzeugen handeln konnte, die im Konvoi ihrem Ziel entgegenrasten.
Und ihr Ziel war Chilton. Daran hatte Craig keinen Zweifel.
Kurzzeitig wurde das Geheul der Sirenen vom tiefen Wummern eines Helikopters übertönt. Er flog in südlicher Richtung über den Ort hinweg. Wenige Sekunden später folgte ein zweiter. Craig fuhr zusammen, als jemand sein Bein packte. Er sah nach unten und erblickte Maddie, die ihn mit besorgter Miene musterte. Das Hubschraubergeräusch klang ab, und nun dominierte wieder der Chor der Sirenen.
»Sind das Polizeiautos, Papa?«
»Ich glaube ja, Schätzchen. Polizei oder Krankenwagen.«
»Oder die Feuerwehr.«
»Oder die Feuerwehr«, räumte er ein.
»Es sind ganz viele. Ist da was ganz, ganz Schlimmes passiert?«
Craig versuchte, betont unbekümmert dreinzuschauen. Es war noch nie so schwierig gewesen, seine Tochter anzulügen.
»Ich weiß es nicht.«
9
Ein Mal erwachte Julia auf dem Weg ins Krankenhaus aus der Bewusstlosigkeit. Im ersten Moment glaubte sie, es sei der Mann in Schwarz, der sie festhielt, und ihre Erleichterung darüber, noch am Leben zu sein, wurde durch das Wissen getrübt, dass sie seine Gefangene war. In ihrer panischen Angst, vergewaltigt zu werden, sträubte sie sich gegen ihre Fesseln und versuchte zu schreien – doch irgendetwas verstopfte ihr den Mund. Während sie sich verzweifelt hin und her warf, hörte sie gedämpfte Stimmen, fast übertönt von ohrenbetäubenden Motorengeräuschen. Jemand rief: »Hoppla, nicht so stürmisch!«, und ein anderer sagte: »Pass auf, sie reißt sich gleich den Zugang raus!«
Sie wurde bewegt, konnte sich selbst aber nicht rühren. Auf eine harte Unterlage geschnallt, wurde sie in eine Art Fahrzeug bugsiert. Sie versuchte die Augen zu öffnen, sah aber nur verschwommene Lichtkleckse. Ihre Sinne waren überlastet vom Lärm und der Bewegung und einem furchtbaren, bedrohlichen Schmerz. Tief in ihrem Inneren spürte sie ihn, wie eine lauernde, mühsam in Schach gehaltene Bestie. Eine Bestie, die sie töten konnte, wenn sie sich losriss. Und mit diesem Wissen kam die Erkenntnis, dass sie sich nicht wehren durfte. Sie musste sich in ihr Schicksal ergeben.
Sie dämmerte weg, und nach einer Weile schlug sie erneut die Augen auf. Jetzt sah sie schon etwas klarer. Sie konnte
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