Amok: Thriller (German Edition)
lächelte, als sei ihm klar, dass sie das vielleicht nicht so empfinden mochte. »Die Patrone war eine 22er, niedrige Geschwindigkeit, abgefeuert aus einiger Entfernung. Bei einem größeren Kaliber oder einem Schuss aus geringerer Entfernung wäre die zerstörerische Wirkung weit größer gewesen.«
Darüber hinaus hatte sie durch den Sturz Dutzende kleinerer Schnitt- und Schürfwunden und ausgedehnte Prellungen davongetragen. Sie hatte auch ein verstauchtes Sprunggelenk und eine Fleischwunde am Bein, die sich deutlich von den anderen unterschied.
»Eine zweite Kugel«, hatte sie gesagt, und Mr. Chapman hatte versonnen genickt, als hätte er so etwas schon geahnt. Sie konnte sehen, wie er sie mit einer Mischung aus Mitleid, Entsetzen und Faszination betrachtete. Es war eine neue Erfahrung für sie, sich wie eine Jahrmarktsattraktion zu fühlen, und sie wusste, dass es noch viel schlimmer werden würde, wenn sie ihnen sagte, was wirklich passiert war.
Vielleicht wäre es besser, gar nichts zu sagen.
Am Tag zuvor hatte er sich einen kurzen Erkundungsgang gestattet. Er war die Flure entlanggeschlendert, hatte aufmerksam die unzähligen Schilder und Hinweise registriert und versucht, die Risiken zu kalkulieren, sie gegen die möglichen Vorteile abzuwägen. Dann hatte er sich in die Cafeteria gesetzt, einen Kaffee getrunken und sich in dem Wissen gesonnt, dass sie jetzt sehr nahe war. Fast in seiner Reichweite.
Er fuhr mit dem Aufzug zur Ebene 8, trat hinaus in einen leeren Korridor und stand vor einer grünen Doppeltür mit drei vertikal angeordneten runden Sichtfenstern in jedem Flügel. Als er sie aufstieß, erblickte er eine Krankenschwester am anderen Ende des Flurs, doch sie stand mit dem Rücken zu ihm.
Perfekt.
In den Tagen nach dem Amoklauf war das Interesse der Medien an den Überlebenden erwartungsgemäß sehr intensiv gewesen. Das Krankenhaus wurde von Reportern belagert, die sich mit regelmäßigen Zwischenberichten begnügen mussten, wo sie doch in Wirklichkeit darauf brannten, zu den Patienten selbst vorgelassen zu werden. Dieses Interesse ebbte ein wenig ab, als einige der Überlebenden selbst an die Öffentlichkeit traten, um ihre Erlebnisse zu schildern, doch in Julias Fall war man der Ansicht, dass eine normale Station mit Mehrbettzimmern nicht sicher genug sei. Deshalb wurde sie, nachdem sie die Intensivstation verlassen durfte, sofort in ein Einzelzimmer verlegt.
Julia bekam von der Berichterstattung in den Medien nur sehr wenig mit. Den Fernseher in ihrem Zimmer hatte sie noch kein einziges Mal eingeschaltet, und das Angebot ihres Bruders, ihr Zeitungen mitzubringen, hatte sie dankend abgelehnt. Er hatte sie an diesem Vormittag besucht und ihr ein paar Toilettenartikel und Bücher aus ihrer Wohnung mitgebracht. Donna und die Kinder könnten es kaum erwarten, sie zu sehen, erzählte er. Sobald sie fit genug sei, sollte sie kommen und eine Weile bei ihnen wohnen.
Sie hatte an das katastrophale Weihnachtsessen gedacht und gelächelt, aber sie hatte nichts gesagt. Als sie bald darauf schläfrig wurde, gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass solche Nickerchen am hellen Tag noch mindestens einige Wochen lang eine Begleiterscheinung des Heilungsprozesses sein würden. Noch ein Grund, weshalb sie Neils Angebot nicht würde annehmen können: Bei drei tobenden und lärmenden Kindern im Haus wäre an Schlaf nicht zu denken.
Dann war sie plötzlich hellwach – irgendetwas hatte sie geweckt. Ein Geräusch draußen auf dem Flur.
Sie rieb sich die Augen und warf einen Blick auf die Uhr auf ihrem Bettschränkchen. Es war kurz nach Mittag. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und Shauna, eine der Schwestern, steckte den Kopf herein – eine junge Irin, eigentlich sehr nett, aber eine ziemliche Plaudertasche, die dazu neigte, die Geduld ihrer Gesprächspartner allzu sehr zu strapazieren. Ein paar Mal schon hatte Julia so getan, als sei sie eingeschlafen, um Shaunas Redefluss zum Versiegen zu bringen.
»Oh, gut, Sie sind wach«, sagte Shauna. »Sie haben Besuch. Er sagt, er wird nicht lange bleiben, wenn es Ihnen zu anstrengend ist.« Sie blickte sich rasch um und fügte im Flüsterton hinzu: »Er ist von der Polizei!«
Julia runzelte die Stirn. Eigentlich sollten alle Besucher sich vorher bei ihrem Stationsarzt anmelden.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Er traf sie wie ein Blitz.
Der zweite Schütze – er könnte
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