Amok: Thriller (German Edition)
einem Schub. Wie sie den Postboten hinter dem Lieferwagen gefunden hatte, wie sie versucht hatte, Moira zu retten; die Verfolgungsjagd; und wie sie dann mit angesehen hatte, wie der erste Killer erschossen wurde. Dann der zweite Killer, wie er auf das Gras starrte. Der Moment, als sie begriff, dass er erraten hatte, wo sie war. Er hatte die Waffe gehoben …
Der Arzt hatte ihr erklärt, eine Amnesie sei nach einer so langen Phase der Bewusstlosigkeit völlig normal, es könne aber auch sein, dass sie überhaupt keine Erinnerungslücken haben würde. Bis jetzt war sie vorsichtig gewesen mit dem, was sie ihnen erzählte, und noch hatte niemand sie gedrängt. Noch nicht.
Ihr Bruder war vor Freude außer sich gewesen, als er gehört hatte, dass es ihr besser ging. Die Tränen strömten ihm übers Gesicht, als er zum ersten Mal mit ihr sprach. Wieder versetzte es ihr einen Stich ins Herz, als ihr klar wurde, dass es wegen des Todes ihrer Eltern war. Neil hatte panische Angst gehabt, sie auch noch zu verlieren.
Nachdem sie ein paar Minuten über dies und das geplaudert hatten, fragte er: »An wie viel erinnerst du dich?«
»Genug«, erwiderte sie und gab ihm damit zu verstehen, dass sie noch nicht bereit war, darüber zu reden.
Aber er hatte ihre Hand genommen und gesagt: »Sie haben den Amokschützen identifiziert. Ein Mann aus der Gegend, Carl Forester. Der typische gemeingefährliche Irre. Er hat sich selbst erschossen, nachdem …«
Einen ganz kurzen Moment lang triumphierte sie innerlich. Ihre Augen mussten geleuchtet haben, denn ihr Bruder lächelte und sagte: »Sie haben seine Leiche auf dem Dorfplatz gefunden. Ich dachte, du würdest es sicher wissen wollen, dass er tot ist.« Er drückte ihre Hand. »Er kann dir nichts mehr tun.«
Sie erwiderte sein Lächeln, brachte ein Nicken zustande. Er meinte den ersten Schützen. Nicht den Mann in Schwarz.
Sie machte den Mund auf, um es ihm zu sagen, doch die Angst und die Verwirrung hielten sie zurück. Sie wusste, dass er es im Fernsehen gesehen hatte, dass er die Zeitungen gelesen hatte; vielleicht hatte er sogar mit Polizeibeamten gesprochen, die direkt mit dem Fall zu tun hatten. Und wenn er glaubte, es habe nur einen Täter gegeben …
Dann glaubten es alle anderen auch.
Die kalten, klaren Tage waren von milderem Wetter abgelöst worden; die Serie von Tiefdruckgebieten, die über die Südküste hinwegzog, brachte Regen, Wind und dichte Bewölkung. Selbst jetzt am Mittag fuhren die meisten Autos auf der Hauptstraße mit Licht, und in den Nebenstraßen um das Krankenhaus herum brannte noch die eine oder andere Straßenlaterne.
In der Nähe des Krankenhauses war beim besten Willen kein Parkplatz zu finden, aber damit hatte er gerechnet. Ein paar hundert Meter weiter konnte er den Wagen schließlich abstellen. Er fuhr einen zehn Jahre alten Ford Escort, den er drei Tage zuvor in Milton Keynes gekauft hatte. Die gleiche Prozedur wie bei der Kawasaki: Privatverkauf, Barzahlung, falsche Angaben zur Person.
Er trug Jeans, Turnschuhe und ein Kapuzenshirt. Er wusste, dass überall Überwachungskameras sein würden, aber er wusste auch, dass die Aufnahmen häufig nicht zu gebrauchen waren. Die Augenzeugen würden nur das sehen, was sie sehen sollten: die zurückgeklatschten schwarzen Haare, das Ziegenbärtchen, die gefärbten Kontaktlinsen.
Mit schnellen, sicheren Schritten betrat er das Krankenhausgelände. Er zog sein Handy aus der Tasche und senkte den Kopf, als er an den Kameras über dem Haupteingang vorbeikam. Sobald er im Gebäude war, steckte er das Telefon wieder ein und konzentrierte sich darauf, so zu tun, als wüsste er genau, wo er hinmusste.
Der für sie zuständige Stationsarzt war Mr. Chapman, ein rundlicher Mann in den Fünfzigern, der sie an einen Dachs erinnerte. Schwarz-weißes Haar, große, buschige Augenbrauen, noch mehr Haare, die aus Ohren und Nase sprossen, und eine ernste, aber dennoch lebhafte Art. Ihm hatte man es überlassen, ihr die Operation zu erläutern: Sie hatten die Bauchhöhle eröffnen müssen, um das Ausmaß der inneren Verletzungen zu ermitteln, und dann drei Stunden damit zugebracht, den Schaden zu beheben.
»Das Geschoss steckte im hinteren Bauchraum, zwischen Ihrer rechten Niere und der unteren Hohlvene, die das Blut aus der unteren Körperhälfte zum Herzen transportiert. Die Bauchspeicheldrüse war leicht beschädigt, allerdings nicht der Pankreasgang. In vielerlei Hinsicht hatten Sie sehr großes Glück.« Er
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