Amok: Thriller (German Edition)
hinter ihr her sein. Sie hatte keine Ahnung, wie er aussah. Keine Ahnung, wer er war. Was, wenn er mitbekommen hatte, dass sie noch lebte, und versuchte -
»Ich kann Mr. Chapman nicht erreichen«, plapperte Shauna weiter, »aber Sie machen so gute Fortschritte, da dachte ich mir, es ist schon in Ordnung, wenn er Sie besucht …«
Sie trat ins Zimmer, und Julia sah, dass der Mann direkt hinter ihr stand. Er war Anfang vierzig, ziemlich groß, mit gepflegten schwarzen Haaren und ernsten Zügen. Er sah nicht wie ein Mörder aus, allerdings auch nicht wie ein Polizist. Ihre Blicke trafen sich, und er lächelte unsicher.
»Ich glaube nicht …«, setzte Julia an, doch es war zu spät. Der Mann ging um die Schwester herum und machte Anstalten, etwas aus der Innentasche seiner Jacke zu ziehen. Die Geste versetzte sie schlagartig zurück auf den Dorfplatz, zu dem Moment, als der zweite Schütze die Waffe zog und auf die Stelle im Baum zielte, wo sie sich versteckt hatte.
Er hatte sie gefunden. Und diesmal konnte sie sich nirgends verstecken.
22
Die Tür hatte ein rundes Fenster in Augenhöhe. Er konnte sie im Bett liegen sehen, inmitten der Apparate, die ihr das Leben gerettet hatten. Was ihr jetzt herzlich wenig nützen würde.
Seine Hand war schon am Türgriff, als eine Stimme rief: »Suchen Sie was?«
Er blickte sich um und sah einen Polizisten gemächlichen Schritts auf sich zukommen, einen dampfenden Kaffeebecher in der einen und mehrere Schokoriegel in der anderen Hand. Er war groß gewachsen, hatte einen dunklen Teint, verdächtig pechschwarze Haare und einen Bierbauch. Ungefähr so hätte Elvis aussehen können, wenn er es bei unverändertem Lebenswandel bis jenseits der fünfzig geschafft hätte.
Es müsste doch möglich sein, ihn zu überwältigen, dachte der Killer. Er sah fett und faul aus, wahrscheinlich saß er die Zeit bis zur Pensionierung auf einer Backe ab. Erst als der Polizist näher kam, sah der Killer das harte Blitzen in seinen Augen. Vielleicht doch kein so leichtes Opfer.
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Ihr Burschen enttäuscht mich, ehrlich.«
Der Killer runzelte die Stirn. Er wartete auf eine Erklärung.
»Ja, gut, ihr müsst auch eure Brötchen verdienen, aber sich hier reinschleichen, um heimlich Fotos von einem neunjährigen Mädchen zu schießen, das im Koma liegt …« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge und schlürfte an seinem Kaffee. »Das hat das arme kleine Ding nicht verdient.«
Der Killer zuckte mit den Achseln. »Na ja, mein Redakteur sitzt mir halt im Nacken. Dachte mir, man kann‘s ja mal probieren.«
»Also, diesmal will ich‘s noch mal durchgehen lassen. Aber wenn ich Sie noch ein Mal erwische, schlepp ich Sie aufs Revier, und dann können Sie meinem Sergeant erklären, was Sie hier wollten. Verstanden?«
Der Killer nickte reumütig und wandte sich ab. Er hörte das Rascheln von Schokoladenpapierchen. »He!«, rief der Polizist, und sein Herz setzte einen Schlag aus.
Er drehte sich wieder um. Der Polizist wedelte mit seinem Marsriegel vor seiner Nase herum.
»Und das mit Prinzessin Di hab ich euch Typen auch nie verziehen!«
Als er das Krankenhaus verließ, dachte er sich, dass es eigentlich gar nicht so schlecht aussah. Er hatte sich vergewissern können, dass das Mädchen noch immer im Koma lag, fast eine Woche nachdem sie knapp dem Erstickungstod entgangen war. Die Aussichten, dass sie nie mehr aufwachen würde, waren sicher nicht schlecht. Und wenn der Polizist nur hier postiert war, um sie vor Reportern zu schützen, dann bedeutete das, dass sie mit anderen Bedrohungen nicht rechneten.
Die Einzige, die ihm gefährlich werden könnte, war die Frau aus dem Baum. Aber er wusste aus den Zeitungen, dass sie inzwischen das Bewusstsein wiedererlangt hatte, und da seitdem nirgendwo in den Medien von einem zweiten Schützen die Rede gewesen war, vermutete er, dass sie unter Amnesie litt – und in diesem Fall könnte er sich sicher fühlen.
Relativ sicher jedenfalls.
Plötzlich war das Zimmer voller Menschen. Die Schwester schrie, und ein Arzt bahnte sich einen Weg durch das Gedränge. Julia registrierte verschwommen, dass sie halb aus dem Bett heraushing. Der Mann, der die Panik ausgelöst hatte, mühte sich vergeblich, sie wieder hineinzuheben. Hinter ihm stand eine Frau in Polizeiuniform, die äußerst besorgt dreinschaute.
Die Rufe und die trappelnden Schritte wurden plötzlich von einem entsetzlichen Wehgeschrei übertönt. Der Laut schien
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