Amok: Thriller (German Edition)
verschaffen und allmählich wieder zu Kräften zu kommen.
Die meiste Zeit war sie erstaunlich optimistisch. Sie hatte unglaubliches Glück gehabt. So musste sie es sehen. Und das galt nicht nur für die Vergangenheit – sie hatte immer noch unglaubliches Glück. Mit jedem Tag wurde sie ein wenig kräftiger, ein wenig zuversichtlicher, kam dem Ziel, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, wieder einen Schritt näher.
Bis zu dem Tag, an dem sie ihn sah.
Das Städtchen Rye war ein pittoreskes Labyrinth aus alten Häusern und schmalen Gässchen, das hoch über dem Fluss Rother und den Romney Marshes thront. Die malerischste Ecke war die sogenannte »Citadel«, das historische Zentrum am höchsten Punkt des Felshügels. Abgesehen von den unvermeidlichen Autos und Verkehrsschildern haben sich die Straßen um die Kirche aus dem 12. Jahrhundert seit den Tagen, als der Schriftsteller Henry James hier lebte, kaum verändert.
Als Julia vor dem Eingang von Lamb House stand – dem ehemaligen Wohnhaus von James und weiteren bekannten Schriftstellern, heute im Besitz des National Trust -, musste sie zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass es nur von März bis Oktober für Besucher geöffnet war. Nachdem sie ein paar Minuten verschnauft hatte, beschloss sie, zur High Street zurückzugehen und in ein Café einzukehren. Der Anstieg von der Bushaltestelle war langsam und mühselig gewesen, und der Abstieg auf dem nassen Kopfsteinpflaster würde nicht minder anstrengend werden.
Zum Glück hatte sie das Stadium, in dem jede einzelne Bewegung sorgfältig im Voraus geplant werden musste, inzwischen hinter sich, aber dennoch war es immer wieder ein kleiner Schock, wenn sie feststellen musste, dass ihre Gliedmaßen die Befehle ihres Gehirns nicht auf Anhieb umsetzen konnten. Dann wurde ihr jedes Mal schmerzlich bewusst, wie eingeschränkt sie noch war, auch wenn sie sich noch so sehr weigerte, sich nur über ihren körperlichen Zustand zu definieren.
Sie bewegte sich wie eine wesentlich ältere Frau, mit kurzen, schlurfenden Schritten, und war dankbar für den Spazierstock, den sie ihr aufgedrängt hatten. Sie trug einen langen Mantel und eine Ballonmütze aus Stoff, die zugleich wärmte und als Tarnung diente. Durch ihre unübersehbare Gebrechlichkeit zog sie zwar immer noch reichlich neugierige Blicke auf sich, aber bis jetzt war sie noch nicht erkannt worden.
Bis jetzt.
Sie ging gerade die High Street entlang, als ihr ein Mann auffiel, der auf dem Gehsteig gegenüber mit ihr Schritt hielt und jedes Mal stehenblieb, wenn sie vor einem Laden verweilte und die Auslagen betrachtete. Als sie sich zu den Aquarellen im Schaufenster einer Galerie umdrehte, konnte sie sein Spiegelbild in der Scheibe sehen: Er zögerte einen Moment und verschwand dann blitzschnell in einem Zeitungsladen.
Im ersten Moment empfand sie nur eine überwältigende Panik. Nicht nur, dass die Ereignisse des 19. Januar sie wieder einholten, nein – der Gedanke, dass jemand ihr nachstellte, ließ noch viel ältere Ängste in ihr aufsteigen. Alle Instinkte bestürmten sie, loszurennen und sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, aber genau dazu war sie nicht in der Lage.
Sie überlegte, ob sie einen Passanten ansprechen sollte. Sich einfach jemanden schnappen, der vertrauenswürdig aussah, und ihn oder sie anflehen, ihr zu helfen. Doch dann legte sich ihre Panik ein wenig. Der schnellste Weg zurück zur Bushaltestelle führte einen weiteren steilen Hang hinunter, aber wenigstens war es keine lange Strecke. Der Mann war noch nicht wieder aus dem Zeitungsladen herausgekommen. Noch hatte sie eine Chance.
Sie überquerte die Straße und hob ihren Spazierstock, um einem Autofahrer zu danken, der für sie gebremst hatte. Dann konzentrierte sie sich ganz auf die Straße vor ihr und machte sich an den Abstieg. Ihre Sohlen schlugen zusammen mit dem Stock einen kleinen Dreierrhythmus auf dem Pflaster. Obwohl sie alles andere als schnell vorankam, brach ihr bald der kalte Schweiß aus. Ihr Sprunggelenk pochte, und im Bauch verspürte sie eine unnatürliche Anspannung. Die Stimme ihres Arztes, mit seinem glatten, professionellen Tonfall, klang ihr in den Ohren, und sie erinnerte sich, wie er ihr die Risiken und möglichen Komplikationen einer unzureichenden Genesungsphase erläutert hatte. Und ganz besonders erinnerte sie sich an die zwei Worte, die das Schreckbild eines plötzlichen, unvorhergesehenen Zusammenbruchs vor ihrem geistigen Auge hatten aufsteigen
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