Amok: Thriller (German Edition)
lassen: innere Blutungen .
Mehrmals blickte sie sich um, und einmal glaubte sie zu sehen, wie der Mann sich rasch wegduckte. Unten angekommen, hechelte sie wie ein Hund und brauchte einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Eine ältere Frau fasste sie am Arm und fragte, ob sie Hilfe brauche.
»Nein, es geht schon«, keuchte Julia. Sie rang sich ein Lächeln ab, doch die Frau starrte sie entsetzt an.
»O je«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wären -«
Julia wartete nicht ab, bis die Frau ihren Gedanken ausgesprochen hatte, sondern stieß sich mit ihrem Stock vom Boden ab, um die Straße zu überqueren. Wieder achtete sie kaum auf den Verkehr, und sie hatte den Verdacht, dass es ihr tief im Inneren gleichgültig war, ob sie überfahren und getötet würde.
Als sie die Haltestelle erreichte, kam gerade ein Bus. Erleichtert stellte sie fest, dass er gut besetzt war; in der Menge konnte sie sich sicherer fühlen. Sie stieg ein und suchte sich einen Platz in der Mitte. Wieder spürte sie die neugierigen Blicke und drehte sich zum Fenster, legte die Wange an das kühle Glas der Scheibe. Der grollende Dieselmotor schien mit der gleichen Frequenz zu vibrieren wie ihre Nerven. Endlich schlossen sich die Türen mit einem Zischen, und der Bus fuhr los. Sie schaute sich um, konnte aber ihren Verfolger nirgends entdecken.
Julia atmete auf. Als sie die Augen schloss, war sie sofort wieder in Chilton. Sie sah, wie die Waffe sich auf sie richtete, und rief sich das Bild des Mannes in Schwarz ins Gedächtnis, seine Größe, seine Statur, verglich alles mit dem Mann, den sie gerade gesehen hatte. Und fragte sich: Könnte er es sein?
In ihren Alpträumen sah sie nie sein Gesicht. Selbst wenn er vor ihr stand und ihr eine Kugel nach der anderen in den Leib jagte, war sein Gesicht immer von dem Helmvisier verdeckt.
Er existierte nicht. Er war ein Produkt ihrer Fantasie, eine Manifestation ihrer Psychose, ausgelöst durch ein extrem traumatisches Erlebnis. Das hatte die Polizei ihr gesagt, und am Tag konnte sie es beinahe glauben. Doch nachts, ob sie wachte oder schlief, war er immer da, ein bedrohlicher Schatten im Hintergrund. Dann malte sie sich aus, wie er in diesem Moment irgendwo wachlag und an sie dachte, so wie sie an ihn dachte. Sein unvollendetes Werk.
Du weichst aus, sagte sie sich. Beantworte die Frage.
Aber sie kannte die Antwort bereits.
Die Antwort lautete: Ja. Er könnte es sein.
Es war etwas über eine Woche her, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, und mehr als zwei Wochen, seit die Polizei das erste Mal mit ihr zu sprechen versucht hatte. Die Befragung war ein einziges Desaster gewesen und hatte eine heftige Auseinandersetzung zwischen ihrem Arzt und dem Kriminalbeamten zur Folge gehabt. Es war auch das letzte Mal gewesen, dass Julia die irische Krankenschwester gesehen hatte.
Die Verhandlungen zwischen der Polizei und ihren Ärzten hatten sich über mehrere Tage hingezogen. Die Polizei stand unter enormem Druck, ihre Ermittlungen erfolgreich abzuschließen, während das Ärzteteam für den Schutz seiner Patientin verantwortlich war, deren psychische Verfassung als extrem prekär eingestuft wurde. Am Ende war es Julia, die darauf bestand, in eine Befragung einzuwilligen, gegen den Rat ihres Arztes. Hinterher wünschte sie, sie hätte auf ihn gehört.
Vielleicht hatte sie zu viel geweint und sich zu unklar ausgedrückt, um ernst genommen zu werden. Aber vielleicht waren die Ermittler – eine Frau im Rang eines Chief Inspector und ein junger Sergeant – auch mit zu vielen Vorurteilen belastet gewesen. Oder sie waren einfach erschöpft und wollten nur diese zermürbende Ermittlung endlich zu den Akten legen können. Was auch immer der Grund sein mochte, das Gespräch verlief jedenfalls genauso katastrophal wie der erste Versuch.
Fast von Beginn an verweigerte ihr Gedächtnis ihr den Dienst. Hatte sie die Leiche des Postboten gesehen, bevor sie den Laden betreten hatte oder danach? Hatte sie zuerst versucht, in einem der Häuser Hilfe zu holen, oder war sie direkt zur Kirche gelaufen? Hatte Carl sie wirklich aufgefordert davonzulaufen, um sie dann zu jagen? Immer wenn sie versuchte, ihre schrecklichen Erlebnisse zu schildern, begann sie am ganzen Leib zu zittern. Ihr Kehle schnürte sich zusammen und machte es ihr physisch unmöglich, auch nur ein Wort hervorzubringen.
Nie würde sie die Reaktion vergessen, als sie zum ersten Mal den zweiten Täter erwähnte. Sie hätten ebenso gut die
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