Amok: Thriller (German Edition)
des Mannes schlug von Begeisterung in vorsichtige Skepsis um. »War das hier …?«
»Mein Vater hat hier gewohnt«, sagte Craig. »Und jetzt verpissen Sie sich von meinem Grundstück, aber ein bisschen plötzlich!«
Der Mann fuhr zusammen. »Ist ja schon gut, Kumpel. Muss man ja nicht gleich so aus der Haut fahren.«
»Nein?« Als der Mann sich an ihm vorbeidrückte, schnappte Craig nach der Kamera und riss sie ihm aus der Hand. Er lief ein paar Schritte über die Straße und schleuderte den Apparat in die Luft. Er segelte im hohen Bogen über die Köpfe der Touristen, die sich um den Baum scharten, und landete im Teich.
»He, das geht ja wohl zu -«, setzte der Mann an. Craig fuhr herum und funkelte ihn an. Der Mann sah seinen Gesichtsausdruck, machte auf der Stelle kehrt und stapfte grummelnd davon.
Craig merkte, dass die meisten der Touristen auf dem Dorfplatz inzwischen ihn anstarrten, und seine Wut verdoppelte sich.
»Was glotzt ihr denn so?«, rief er. »Reicht euch das noch nicht? Ihr wollt wohl noch eine Varietévorstellung, wie?«
Vereinzeltes Getuschel und Schulterzucken. Die meisten standen nur da und glotzten stumpf vor sich hin. Sie erinnerten ihn an Nick Parks Knetfiguren in der Serie Creature Comforts.
»Hier sind Menschen gestorben«, sagte er und senkte die Stimme ein wenig. »Das hier ist nicht irgendein beschissener Freizeitpark. Wir verkaufen keine Geschirrtücher und Souvenirteller. Menschen sind gestorben . Und sie verdienen Respekt.«
Noch mehr Gemurmel. Ein paar Leute bekundeten ihr Unbehagen, indem sie nervös von einem Fuß auf den anderen traten.
»Sie sollten sich was schämen«, fuhr Craig fort. »Steigen Sie wieder in Ihren Bus und lassen Sie uns in Frieden.«
Vereinzelt waren halblaute Kommentare zu hören. Einige der Touristen besaßen den Anstand, kehrtzumachen und sich zum Bus in Bewegung zu setzen, aber noch im Gehen schossen sie fleißig weiter Fotos von den Häusern, der Kirche, dem Dorfplatz und den Blumen.
Und wenn sie es gekonnt hätten, dachte Craig, hätten sie sicher auch die Leichen fotografiert, das Blut, den Schmerz und die Trauer.
26
Der Killer glaubte sich für das, was im Krankenhaus vorgefallen war, ausreichend gerechtfertigt zu haben, doch Decipio war da offensichtlich anderer Meinung.
Versuch nicht, irgendetwas zu beschönigen. Du hast versagt. Sie ist noch am Leben, und damit ist sie eine Bedrohung. Du solltest beten, dass sie nicht mehr aufwacht.
In der gleichen E-Mail spielte er auch indirekt auf den Sohn des Aktivisten an, diesen Craig Walker. Er warnte davor, dass die Leute anfangen könnten, Verbindungen zwischen dem Massaker und dem Bauantrag herzustellen, falls man nichts unternähme. Die Sorge schien berechtigt, und doch lautete die Anweisung lediglich, Walker im Auge zu behalten, nicht mehr. Die Nachricht endete mit den Worten:
Vergiss nicht: Es geht hier um deinen Hals, nicht um meinen.
Er starrte den Monitor an, bis jedes einzelne Wort sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. Keine Restrisiken , hatte es in der letzten Nachricht geheißen. Aber es gab noch Restrisiken. Da war das Mädchen. Da war die Frau im Baum. Und dann ging es ihm plötzlich auf: Aus Decipios Sicht gab es natürlich noch ein weiteres Restrisiko.
Ihn selbst.
Er begriff, wie leicht er zum Sündenbock gemacht werden könnte, als Opfer dargebracht. Seine Position war äußerst prekär. Obwohl er einen ganz bestimmten Verdacht hatte, wusste er immer noch nicht mit Sicherheit, wer Decipio wirklich war. Der Name klang nach einer Figur aus einem Shakespeare-Drama. Er hatte nachgeschlagen und herausgefunden, dass es Latein war. Es bedeutete täuschen, irreleiten, in die Falle locken.
Sehr passend. Und vielleicht ein weiterer Hinweis auf das Schicksal, das ihn erwartete.
Aber nicht, wenn er sich wehrte. Nicht, wenn er selbst zu einem Präventivschlag ansetzte.
Auf jeden Fall wurde es Zeit, dass er sich nicht länger herumkommandieren ließ. Von nun an würde er nach eigenem Gutdünken vorgehen. Seine eigenen Interessen schützen und nicht die von irgendjemand anderem. Und wenn das bedeutete, dass er jeden beseitigen musste, der eine Bedrohung darstellte, dann war es eben so.
Zweiter Teil
27
Der Februar brachte eine Reihe klarer Tage mit milden Winden und genug Wärme, um die ersten Frühlingsblumen zum Blühen zu bringen. Ideales Spazierwetter, und der riesige menschenleere Strand von Camber Sands war für Julia das ideale Gelände, um sich Bewegung zu
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