Amok: Thriller (German Edition)
dazu gebracht, mit mir zu reden.«
Sie räusperte sich. »Es war nicht bloß das. Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich so reagiert habe.« Wieder zögerte sie. Ihr war bewusst, dass sie ihm keine Erklärung schuldig war. Aber zugleich war es ihr wichtig, dass er kein falsches Bild von ihr bekam. »Ich wurde auf der Straße überfallen, als ich neunzehn war. Jemand hat versucht, mich zu vergewaltigen.«
Craig setzte sich ruckartig auf. »O Mann. Das tut mir wirklich leid.«
»Eigentlich wollte ich Ihnen das gar nicht erzählen.«
»Wie ist es passiert?«
»Ich war mit ein paar Freundinnen an Silvester nach Brighton gefahren. Ich hatte ziemlich viel getrunken, aber es war einer von diesen Abenden, wo man noch so viel trinken und feiern kann und trotzdem irgendwie nicht in die richtige Stimmung kommt. Kennen Sie das?«
Craig lächelte. »Nur zu gut.«
»Dieser Typ hatte mich an der Bar angebaggert. Er rieb sich an mir und machte obszöne Andeutungen. Ich sagte ihm, er solle sich verpissen. Kurz darauf hatte ich einen albernen Streit mit einer meiner Freundinnen über irgendetwas vollkommen Belangloses, also beschloss ich, früh aufzubrechen und zu Fuß nach Hause zu gehen. Damals lebten meine Eltern in Hove, weniger als eine Meile von dem Pub entfernt. Es war gegen zehn vor zwölf, und die Straßen waren natürlich wie ausgestorben. Erst als ich hinter mir Schritte hörte, merkte ich, dass ich verfolgt wurde. Dann legte mir auch schon jemand den Arm um den Hals und zerrte mich in ein Gebüsch in der Nähe vom Palmeira Square.«
»Der Mann aus dem Pub?«
»Ich nehme es an. Er rang mich nieder und fing an, an meinen Kleidern zu zerren. Er sagte, er habe ein Messer und würde mich umbringen, wenn ich nicht stillhielte.«
Craig sagte nichts. Julia räusperte sich erneut.
»Im ersten Moment war ich vollkommen starr vor Entsetzen. Ich war drauf und dran, alles zu tun, was er verlangte, und mich vergewaltigen zu lassen. Aber dann hörte ich eine Frau lachen, ganz in der Nähe, und ich dachte: Das ist verrückt. Wie kann er das mit mir machen, während nur ein paar Schritte weiter Leute vorbeigehen? Also schrie ich und trat nach ihm, bis er von mir abließ.« Sie schnaubte. »Ich glaube, ich habe ihn im Schritt erwischt. Er ist davongelaufen, und die Leute, die ich gehört hatte, fanden mich und riefen die Polizei.«
»Wurde er gefasst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte keine sehr präzise Beschreibung liefern. Auch im Pub hatte ich ihn eigentlich nicht richtig gesehen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn sich alles an der Bar drängt. Und damals gab es noch nicht an jeder Ecke eine Überwachungskamera. Aber ein oder zwei Jahre danach hörte ich von einem Mann, der wegen Mordes an seiner Freundin verurteilt worden war, und als ich das Foto sah, war ich mir ziemlich sicher, dass er es war.«
»Es ist furchtbar, dass er wegen des Überfalls auf Sie nicht zur Rechenschaft gezogen wurde.«
»Da bin ich weiß Gott kein Einzelfall.« Sie zuckte mit den Achseln. »Damals war ich eigentlich fast erleichtert. Der Gedanke, das alles im Zeugenstand noch einmal durchleben zu müssen, erschien mir beinahe schlimmer als der Überfall selbst. Aber der Schlüsselmoment kam, als ich wieder an die Uni zurückkehrte. Ein oder zwei Wochen lang verließ ich kaum mein Zimmer. Ich war ein Nervenbündel und fuhr bei jedem Geräusch und jeder kleinen Bewegung sofort zusammen.
Und dann kam ich eines Tages plötzlich zur Vernunft. Ich wusste, dass ich vor einer einfachen Wahl stand: Ich konnte entweder zulassen, dass dieser Vorfall mich ganz und gar beherrscht und mein ganzes Leben zerstört, oder ich konnte ihn hinter mir lassen und nach vorne blicken.«
Craig nickte. »Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker.«
»Genau. Also habe ich mich gezwungen, alle möglichen Dinge in Angriff zu nehmen, die ich vor dem Überfall nie gemacht hätte. Ich habe viel mehr Sport getrieben und war bald richtig gut in Form. Ich habe einen Kurs in Selbstverteidigung belegt. Ich bin allein ausgegangen, auch spätabends, und habe es fast darauf angelegt, dass etwas passiert, weil ich beweisen wollte, dass ich diesmal damit fertigwerden würde. Ich beschloss einfach, mich nicht unterkriegen zu lassen – und ich bin überzeugt, dass mir das geholfen hat, den 19. Januar zu überleben.«
Craig wog seine Erwiderung sorgfältig ab. »Das ist ganz bestimmt so. Aber ist das nicht umso mehr ein Grund, jetzt nicht aufzugeben?«
»Ich habe nicht
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