Amokspiel
wie er sie von hinten mit seinem linken Arm an der Hüfte umfasste. Sie erschauerte innerlich bei der Berührung. Bis vor wenigen Sekunden hatte sie geglaubt, die Situation im Griff zu haben. Jetzt konnte sie noch nicht einmal mehr ihre Gedanken kontrollieren.
Was, wenn Steuer Recht hat? Was, wenn Jan ein Doppelspiel treibt und es doch auf Leoni abgesehen hat? »Entschuldigen Sie die körperliche Nähe, es geht leider im Augenblick nicht anders«, erklärte Jan. Dann presste er seinen Bauch noch näher an ihren Rücken. Einige Geiseln haben es behauptet. Er hat gedroht, Leoni zu töten. Aber wer ist dann der Maulwurf, der ihm von draußen geholfen hat? Und welches Motiv sollte Jan überhaupt haben?
Während Iras Gedanken um all diese offenen Fragen kreisten, wechselte die graue Rolle Industrieklebeband aus der rechten Hand des Geiselnehmers nun in seine linke. Er bindet uns zusammen!, stellte Ira fest. Tatsächlich. Wie ein Frachtpaket. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie, als Jan mit dem Klebeband nahe der gebrochenen Rippe vorbeirollte.
Jan wickelte fast die gesamte Rolle ab. Vorne in Bauchnabelhöhe, über ihre Hüften und hinten wieder um seinen Rücken herum.
»Es ist einfach, aber sehr effektiv.«
Ira musste ihm Recht geben. Das vierlagige Klebeband konnte sie mit bloßen Händen nicht zerreißen, erst recht nicht, wenn diese aneinandergebunden waren. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das in einem viel zu engen Hula-Hoop-Reifen eingeklemmt ist. An Flucht war nicht zu denken. Außerdem befand Ira sich durch diesen Schachzug unweigerlich die gesamte Zeit in der Schusslinie. Die Scharfschützen würden keine einzige Kugel abfeuern. Selbst ein gezielter Treffer in Jans Rücken wäre wegen der Durchschlagskraft viel zu gefährlich. Außerdem war er womöglich noch verkabelt.
»Hören Sie ...«, sagte Ira, als Jan sie sanft, aber bestimmt mit seinem gesamten Körper vorwärtsdrängte. Sie musste loslaufen, sonst wäre sie gestolpert und gemeinsam mit ihm hingeschlagen.
»Wir beide wissen nicht, wie das Ganze hier ausgehen wird, richtig?«
»Richtig.«
»Könnten Sie mir dann einen letzten Gefallen tun?« Er manövrierte sie mithilfe von Gewichtsverlagerungen zum Studioausgang. Sie kamen nur sehr unbeholfen und schleppend vorwärts. » Welchen? «
»Ich würde gerne noch einmal mit meiner Tochter reden. Dazu war vorhin nicht die Gelegenheit. Bitte.« Er zögerte nur kurz.
»In Ordnung«, sagte er leise. Eine Sekunde später piepte es direkt neben Iras Kopf, dann spürte sie sein Handy an ihrem Ohr.
»Aber ich will keine Zeit verlieren. Sie müssen Ihr Gespräch auf dem Weg nach oben erledigen.«
»Okay.« Ira musste husten, was sie noch mehr schmerzte als jeder einzelne Schritt, bei dem das Klebeband an ihrem verletzten Oberkörper riss.
»Das Telefon funktioniert mit automatischer Spracherkennung. Sagen Sie einfach die Nummer, und es wählt.« Sie erreichten mühsam die Tür, die Ira öffnete. Der Schlüssel steckte noch, und sie konnte die Klinke trotz ihrer fixierten Hände gut erreichen. Ein viel größeres Problem würde die kleine Stufe darstellen, die aus dem gläsernen Studiobereich in die Großraumredaktion führte. Wie erwartet, standen hier bereits zwei Scharfschützen am hinteren Ausgang in der Nähe der Empfangstreppe. Ira hatte Jan in der letzten halben Stunde darüber informiert. Auch dass sie nur da waren, um den Weg zu sichern. Niemand würde schießen, bevor sie das Gebäudedach erreicht hatten. Und bis dahin war es noch ein weiter Weg. Sie musste Kittys Nummer dreimal wiederholen, bis endlich die Verbindung stand. Zu diesem Zeitpunkt lag die Hälfte des Weges durch den Redaktionssaal schon hinter ihnen. Sie zählte nervös die Freizeichen bis zum Abheben. Noch fünfzehn Meter bis zu den Fahrstühlen. In ihnen gab es keine Verbindung mehr. Ira wusste, was immer sie ihrer Tochter noch sagen wollte, bevor sie mit dem Geiselnehmer als lebende Zielscheibe auf das Senderdach stieg, es musste innerhalb der nächsten drei Minuten erledigt sein.
26.
»Hat er dich freigelassen, bist du in Sicherheit?« Kitty hatte die Nummer im Display nicht erkannt und war völlig überrascht, ihre Mutter zu hören. Sie trat an das Fenster ihres Krankenzimmers in der obersten Etage der Charité und sah rüber zum Potsdamer Platz. Das Sony Center verdeckte das MCB-Gebäude in Höhe der Sendestudios, aber sie konnte sich an dem alles überragenden Dach des benachbarten Klinkerbaus orientieren. »Ja,
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