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Amokspiel

Amokspiel

Titel: Amokspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Foyer an einem Getränkeautomaten vorbeikommen.

18.
    Kitty kauerte neben dem dreckigen Mülleimer unter der Spüle und konnte durch die Lamellen hindurch lediglich die Hosenbeine der beiden Männer erkennen. Rechts der UPS-Fahrer in brauner Uniform. Links der Geiselnehmer, der jetzt kaum wiederzuerkennen war. Sein falsches Gebiss, die verfilzte Perücke und sogar sein Bierbauch waren verschwunden, und Kitty ärgerte sich fast darüber. Denn der asoziale Prolet hätte viel besser zu den verbrecherischen Handlungen gepasst als das wahre, fast sympathische Gesicht des Geiselnehmers. Der Psychopath mit den raspelkurzen braunen Haaren sah aus wie der freundliche Junggeselle, den man gerne an der Kasse vorlässt, wenn er nur eine Kleinigkeit bezahlen will. Jemand, der auf den ersten Blick etwas zu dünn, etwas zu hochgewachsen und etwas zu blass aussah, um als schön zu gel-ten. Doch Kitty kannte diese Sorte Mann: Je öfter man sich mit einem davon traf, desto attraktiver wurde er. Mit blankem Entsetzen sah sie, dass Jan etwas auf den Boden fallen ließ, das er zuvor aus einer Aldi-Tüte herausgenommen hatte. Als sie erkannte, was es war, musste sie sich in ihren Handrücken beißen, um nicht laut aufzuschreien. Leichensäcke.
    »Es tut mir leid«, sagte der Geiselnehmer, und Kitty fand, dass seine Stimme unverstärkt viel unsicherer klang als über das Radio, das natürlich auch hier in der Küche eingeschaltet war. Wie überall im Sender. »Moment!«, flehte der UPS-Fahrer mit brüchiger Stimme.
    »Keine Angst. Es wird nicht wehtun.«
    »Bitte.« Der starke Mann zitterte am ganzen Körper, und seine Stimme verriet Kitty, dass er weinte. »Es tut mir sehr leid. Aber machen Sie sich keine Sorgen.«
    »Ich will nicht sterben.«
    »Das werden Sie nicht.«
    » Nein? «
    »Nein.«
    Kitty glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Doch tatsächlich. Statt auf den Mann zu schießen, trat der Geiselnehmer an die Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. »Hier nehmen Sie die.«
    »Was ist das?«
    »Eine Kopfschmerztablette. Es tut mir leid, dass ich vorhin so doll zugeschlagen habe.«
    Die Stimme des Geiselnehmers klang auf einmal völlig verändert. Nicht mehr zynisch, sondern fast freundlich. Kitty war verwirrt. Was ging hier vor?
    »Warum tun Sie das?«, fragte der UPS-Mann. »Das ist eine lange Geschichte. Ich würde sie Ihnen gerne erzählen, aber ich kann die anderen im Studio nicht mehr länger warten lassen.«
    Der Geiselnehmer ging auf den UPS-Mann zu. Da er einen Kopf größer war, musste er sich zu ihm runterbeugen. Kitty hielt den Atem an. Doch ihr Herz hämmerte so laut, dass sie nicht hören konnte, was er ihm ins Ohr flüsterte.
    Der Knall, der wenige Sekunden später die Stille zerriss, war dagegen so ohrenbetäubend, dass sie vor Schreck zusammenzuckte und mit ihrem Kopf an die Abdeckplatte stieß. Sie fürchtete, dadurch ihr Versteck verraten zu haben, doch die entsetzten Schreie aus dem A-Studio hatten alle Geräusche, die Kitty unter der Spüle erzeugte, übertönt.
    Sie war sich nicht sicher, ob sie immer noch schrie, als der UPS-Bote wankte. Um schließlich direkt vor ihren Augen sterbend zusammenzubrechen.

19.
    Betäubte Angst. Ira fand keine Worte, die den Zustand besser beschrieben, in dem man sich befindet, wenn man nachts in seiner dunklen Wohnung von einem unbekannten Geräusch aus dem Tiefschlaf gerissen wird. Der Puls reißt einem an den Adern, das Herz klopft wie ein kranker Schiffsmotor, und alle übrigen Sinne versuchen, die nachtblinden Augen wachzurütteln. Betäubte Angst.
    Als der Schuss fiel und über das Radio in ganz Berlin und Brandenburg übertragen wurde, erlebte Ira ein ähnliches Gefühl. Nur tausendfach potenziert. Eine Geisel war tot. Der Täter hatte ernst gemacht. Und die Tatsache, dass Ira es vorausgesehen hatte, machte die Gewissheit nicht weniger schmerzlich. Im Gegenteil. Ira steckte die ersten Zwanzig-Cent-Münzen in den Getränkeautomaten am Eingang des Radiosenders und verdrängte die Vorwürfe. Sie hatte die Lage richtig eingeschätzt. Die Situation war nicht verhandelbar. Jedenfalls nicht für eine Alkoholikerin, die mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hatte. »Hey!«
    Sie unterdrückte den Impuls, sich zu Götz umzudrehen, und warf stattdessen weiteres Geld nach. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der Automat stand im Foyer, nur wenige Meter vom bewachten Ausgang entfernt. Doch die schwer bewaffneten Polizisten wollten nur verhindern, dass Menschen das abgesicherte Gebiet

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