Amokspiel
müssen nur den Arm ausstrecken und Ihre Tochter auf das Floß ziehen, auf dem Sie sitzen. Würden Sie das tun?«
»Sicher.«
»Gut. Katharina ist also gerettet. Und jetzt sehen Sie neben Katharina ein weiteres Mädchen. Es ist Sara.«
»O Gott«, stöhnte Ira. Ihre rechte Hand verkrampfte sich um die Obduktionsakte.
»Stellen Sie sich vor, das Schicksal gibt Ihnen noch einmal die Chance, die Zeit zurückzudrehen. Sie können Ihre Tochter retten. Aber Sie können nicht beide Kinder auf das Floß ziehen. Es bietet nicht genügend Platz und würde untergehen. Würden Sie Katharina wieder runterschubsen und Sara raufziehen?«
»Nein!«
»Wollen Sie lieber Sara sterben lassen?«
»Nein, natürlich nicht«, keuchte Ira. »Was soll das?«
»Tut mir leid, ich will Sie nicht quälen, Ira. Ich beantworte nur Ihre Frage. Warum ich heute so handeln muss, selbst wenn Leoni mich dafür hassen wird. Wir alle müssen manchmal Dinge auf uns nehmen, die wir eigentlich gar nicht wollen. Dinge, die anderen wehtun. Und die selbst die Menschen ablehnen, denen wir Gutes tun. Denken Sie nur an das Floß. Ich bin mir sicher, Katharina würde Sie später dafür hassen, wenn Sie Sara nicht retteten. Denn der Preis von Katharinas Rettung wäre die ewige Gewissheit, nur auf Kosten der Schwester weiterleben zu dürfen.«
Schmerz schoss unvermittelt durch Iras Hand, während sie sich gleichzeitig so fühlte, als steche Jan ihr gerade mit einer Nadel ins Auge, um mit einer Einwegspritze seine bösen Gedanken direkt in ihr Gehirn zu pumpen. Die eine hat überlebt und hasst ihre Mutter. Wenn du wüsstest, wie nahe du an der Wahrheit bist, dachte Ira und sah jetzt erst den Blutfleck auf der Zusammenfassung des Obduktionsberichtes. Sie hatte sich beim Zuhören an einer Seite geschnitten. Genau in der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Haben Sie verstanden, Ira? Ich habe keine Wahl. Ich muss das hier durchziehen. Egal, was Leoni darüber denkt.«
»Aber was macht Sie denn so sicher, dass Sie noch lebt? Haben Sie einen Beweis?«
Ira steckte sich den verletzten Handballen in den Mund wie eine Zitronenscheibe, kurz bevor man den Tequila runterstürzt. Das Blut schmeckte angenehm metallisch und erinnerte sie an die Pistole von heute früh in ihrer Küche.
»Ja. Mehrere. Ich habe zahlreiche Beweise.«
»Welche?«
»Sie hat mich angerufen.«
»Wann?«
»Eine halbe Stunde danach.«
»Wonach?« Ira feuerte ihre Fragen blitzschnell ab, um die Unterhaltung auf gar keinen Fall abreißen zu lassen. »Nach ihrem angeblichen Unfall. Ich hatte gerade den Tisch auf der Terrasse gedeckt. Wir wollten zu Abend essen. Es sollte ein besonderer Tag werden.«
»Aber sie ist nicht gekommen?«
»Nein. Es war alles vorbereitet. Das Essen, der Champagner. Der Ring. Wie im Film, verstehen Sie? Und dann rief sie an.«
»Was hat sie gesagt?«
»Ich konnte sie nur schlecht verstehen. Die Verbindung riss immer wieder ab. Aber es war eindeutig Leoni. Plötzlich klopft es an der Tür, ich öffne, und ein Polizist erklärt mir, meine Freundin wäre gestorben. Jetzt verraten Sie mir: Wie kann das sein? Wie konnte ich in dieser Minute noch mit ihr sprechen, wenn ihr Auto angeblich schon lange ausgebrannt war?«
»Woher wissen Sie, dass das am Telefon keine Tonbandaufnahme war?«
»Wer sollte mir so einen grausamen Streich spielen wollen? Außerdem ist das völlig ausgeschlossen. Sie hat auf meine Fragen geantwortet.«
»Auf welche?«
»Ich fragte, ob sie geweint hätte, was sie bejahte.« Merkwürdig, dachte Ira. Entweder Jan ist komplett irre, oder es kann tatsächlich keine Aufnahme gewesen sein. Vermutlich Ersteres. »Wie ging das Gespräch weiter?«
Ich wollte natürlich wissen, was passiert war. Kurz zuvor hatte ich nur ein einziges Wort verstanden. >Tot<.«
»>Tot«
»Ja. Doch sie wiederholte es nicht mehr. Stattdessen sagte sie, ich dürfe nichts glauben.«
»Was meinte sie damit?«
»Keine Ahnung. >Glaub nicht, was sie dir sagen<, das waren ihre letzten Worte. Danach habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Eine Sekunde später will mir ein Polizist weismachen, Leoni sei schon lange gestorben.«
»Aber Sie glaubten das nicht?«
»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Dass ich traumatisiert war. Dass ich mich in eine Scheinwelt flüchtete, nachdem ich die Todesnachricht erhielt. Aber so war es nicht.«
»Was macht Sie so sicher?«, fragte Ira. »Alles. Der Obduktionsbericht zum Beispiel.« Ira starrte in den aufgeschlagenen Ordner. Der
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